Hamburg. 2002 richtet ein ehemaliger Schüler in einer Schule ein Blutbad an. 17 Personen sterben. Diese Vorwürfe erhob ein Rechtsanwalt.

Ein peitschender Knall ertönt. Danach ein weiterer und noch einer. Es sind Schüsse. Immer wieder hallt es durch das Gebäude, immer mehr Menschen werden getroffen. In Rambo-Manier bewegt sich der Täter durch die Gänge des Gymnasiums, feuert auf etliche Menschen, denen er begegnet, lädt nach und schießt wieder.

Es ist ein entsetzliches Verbrechen, das sich an diesem 26. April 2002 in einer Erfurter Schule abgespielt hat – und das ganz Deutschland erschütterte. Es handelt sich um einen Amoklauf, wie man ihn sonst eher aus Amerika kennt. Ein Verbrechen, das etliche Todesopfer gefordert hat, begangen von einem Schüler. Der 19-Jährige hinterlässt ein Blutbad mit 16 Toten.

Amoklauf an Schule in Erfurt: Täter schießt 82-mal, 17 Menschen sterben

„Der Täter hat eine Selbstladepistole der Marke Glock benutzt“, sagt Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher in „Dem Tod auf der Spur“, dem Crime-Podcast mit Rechtsmediziner Klaus Püschel. „Und als das Magazin nach 17 Schüssen leer ist, hört der Schütze noch lange nicht auf. Er schiebt ein neues Magazin in seine Waffe. Wieder feuert er 17 Kugeln ab. Nachladen, schießen, nachladen, schießen, immer wieder. Am Ende hat der 19-Jährige 82 Projektile verbraucht.“

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„Wahrscheinlich hätte der junge Mann noch weiter auf andere, unschuldige Menschen anlegen können“, meint Rechtsmediziner Püschel. „Er hat nämlich bei seinem Amoklauf neben der Glock noch eine weitere Waffe bei sich gehabt. Er hat diese zweite Waffe, eine Pumpgun, mit einem Gurt auf dem Rücken getragen. Doch er hat sie nicht genutzt. Am Ende begeht der Täter, der ein Massaker angerichtet hat, Suizid.“

Die Tat löste eine regelrechte Schockwelle aus, die ganz Deutschland überrollte. Wie war ein solches Verbrechen möglich? „Vielleicht hilft ein Blick zurück“, sagt Mittelacher. „Drei Jahre zuvor hatte das Schulmassaker aus dem amerikanischen Littleton die Welt erschüttert. Zwei Abschlussklässler erschossen am 20. April 1999 an der Columbine High School in Colorado innerhalb einer knappen Stunde zwölf Schüler im Alter von 14 bis 18 Jahren, einen Lehrer und sich selbst.“

Erfurt: Hat der Täter das Schulmassaker von Columbine als Vorbild benutzt?

Hat der junge Mann aus Erfurt dieses amerikanische Massaker als Vorbild genutzt? Eindeutige Informationen darüber gibt es nicht. Der Attentäter aus Thüringen hat nichts Schriftliches hinterlassen, aus dem explizite Schlüsse gezogen werden können. „Was wir allerdings ganz sicher kennen, ist die erschütternde Bilanz der Gewalttat“, erzählt Mittelacher. „Der 19 Jahre alte ehemalige Schüler Robert S. erschoss elf Lehrer, eine Referendarin, eine Sekretärin, zwei Schüler und einen Polizeibeamten. Anschließend tötete er sich selbst.“

Die Tat fand am Tag der letzten schriftlichen Abiturprüfung statt. Robert S. war zuvor von der Schule verwiesen worden. Hintergrund war, dass er mehrere Tage gefehlt und ein ärztliches Attest gefälscht hatte. Vielleicht wollte er nach seinem Rauswurf ein Zeichen setzen? Nach dem Motto: Wenn ihr mich hier nicht auf der Schule behalten wollt, dann sollt ihr sehen, was ihr davon habt.

In einem Fenster des Erfurter Gutenberg-Gymnasiums ist am 26. April 2002 ein Zettel mit der Aufschrift „Hilfe“ angebracht. Damals erschoss ein Ex-Schüler 16 Menschen und tötete anschließend sich selbst.
In einem Fenster des Erfurter Gutenberg-Gymnasiums ist am 26. April 2002 ein Zettel mit der Aufschrift „Hilfe“ angebracht. Damals erschoss ein Ex-Schüler 16 Menschen und tötete anschließend sich selbst. © picture alliance / Martin Schutt/Zentralbild/dpa | Martin Schutt

An jenem Tag im April 2002 betrat Robert S. gegen 10.45 Uhr die Schule, war zu dem Zeitpunkt noch unmaskiert. Seine Waffen und die Munition trug er noch in einer Sporttasche oder einem Rucksack. Auf der Herrentoilette wechselte er einen Teil seiner Kleidung – unter anderem zog er sich eine schwarze Gesichtsmaske über den Kopf. Dann nahm er eine Glock und eine Pumpgun mit.

Der Amokläufer ist maskiert, hat zwei Schusswaffen dabei

„Der 19-Jährige machte sich, so maskiert und bewaffnet, zunächst auf den Weg ins Sekretariat der Schule“, erzählt Püschel. „Dort erschoss er die stellvertretende Schuldirektorin und die Sekretärin. Im Nebenzimmer befand sich die Direktorin. Die Schulleiterin schloss sich in ihrem Büro ein und alarmierte die Rettungsleitstelle.“ Mittelacher ergänzt: „Aber bis die Rettungskräfte an der Schule ankamen, ging der Schüler weiter durchs Gebäude, schoss immer wieder auf Menschen, denen er unterwegs begegnete. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass er es vor allem auf die Lehrer abgesehen hatte.“

Unter anderem schoss er mehrmals auf eine fliehende Lehrerin. Diese fiel vornüber durch eine halb geöffnete Tür. Der Schütze stieg über sie hinweg und gab aus der anderen Richtung noch einen weiteren Schuss auf die liegende Frau ab.

Auch zwei Schüler tötete er – mit Kugeln durch eine geschlossene Tür, hinter der sich mehrere Menschen verbarrikadiert hatten. Ein weiterer Schüler überlebte wie durch ein Wunder: Die Kugeln blieben im Rucksack, den der Junge trug, stecken. Danach begab sich der Amokläufer auf den Schulhof, erschießt dort eine weitere Lehrerin. Robert S. wechselt anschließend sein Magazin.

Amoklauf: Ein Lehrer kann den Täter einsperren

„Aber etwas anderes hat sich grundlegend geändert“, sagt Püschel. „Mittlerweile ist die Polizei an der Schule eingetroffen. Der Amokläufer eröffnet das Feuer auf die Polizisten. Einer der Beamten schießt zurück. Niemand wird getroffen. Daraufhin geht Robert S. zurück ins Gebäude und dort in das erste Obergeschoss. Von einem Fenster aus erschießt er einen Polizisten.“

„Das sind jetzt insgesamt 16 Menschenleben, die der junge Mann auf dem Gewissen hat“, fasst Mittelacher zusammen. „Und jetzt geschieht etwas Erstaunliches, so etwas wie eine Wendung.“ „So sieht es aus“, bestätigt Püschel. „Jedenfalls erzählt der Lehrer später, er habe zu dem Amokläufer gesagt: ,Du kannst mich jetzt erschießen.‘ Der junge Mann habe dann aber die Waffe gesenkt und gesagt: ,Für heute reicht’s.‘ Der Lehrer fordert Robert S. dann offenbar auf, ihn zu einem Gespräch in einen Raum zu begleiten. Als der Amokläufer daraufhin zur Tür geht, wird er plötzlich von dem Lehrer in den Raum gestoßen und eingesperrt. Kurz darauf erschießt sich Robert S. selbst.“

Hamburger Rechtsmedizin erstellt zum Fall von Erfurt Gutachten

An der Aufarbeitung der Geschehnisse in der Schule war später die Hamburger Rechtsmedizin mit einem Gutachten beteiligt. Püschel erklärt: „Hintergrund ist Folgendes: Ein Erfurter Rechtsanwalt erhob nach seinen Recherchen zum Schulmassaker den Vorwurf, dass zwei Schüler sowie drei der getöteten Lehrer erst zwischen ein und zwei Stunden, nachdem sie von Robert S. angeschossen worden waren, starben. In der Zeit sei ihnen keine medizinische Hilfe zuteilgeworden.“

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Der Rechtsmediziner erläutert weiter: „Vor allem ging es bei unserem Gutachten darum, ob aus den Obduktionsberichten und sonstigen Umständen erkennbar war, ob und inwieweit Rettungsmöglichkeiten für die Opfer bestanden haben. Es ergab sich insgesamt für unsere Experten in Hamburg eindeutig, dass die Getöteten jeweils durch die Schüsse schwerste Verletzungen innerer Organe und großer Blutgefäße erlitten hatten, sodass keinerlei Überlebenschancen bestanden. Es waren ganz klar tödliche Schussverletzungen.“

Nach Amoklauf in Winnenden gab es wegweisendes Urteil

Später gab es in Deutschland weitere Ereignisse, die dem Amoklauf von Erfurt ähnelten. „Beispielsweise gab es den Amoklauf von Winnenden am 11. März 2009“, so Püschel. „Täter war damals ein 17-Jähriger. Dieser Jugendliche schoss in der Albertville Realschule in Winnenden mit einer Pistole des Typs Beretta 92 auf Schüler und Lehrer. K. tötete 15 Menschen, verletzte 14 weitere und erschoss zuletzt sich selbst. Insgesamt gab der 17-Jährige 112 Schüsse ab.“

„Die Waffe, die Tim K. bei dieser Bluttat benutzte, hatte seinem Vater Jörg K. gehört“, sagt Mittelacher. „Jörg K. hatte die Beretta unter seinen Pullovern im Schlafzimmerschrank aufbewahrt. Ein Magazin lag im Nachttisch. Der Vater musste sich später vor Gericht verantworten. Jörg K. hätte damit rechnen müssen, dass sein Sohn die Waffe benutzen wird, hieß es in der Anklage. In diesem Fall gab es schließlich ein wegweisendes Urteil: Der Vater des Amokläufers wurde am 1. Februar 2013 zu 18 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Jörg K. trägt nach Überzeugung des zuständigen Landgerichts eine Mitschuld am Massenmord, den sein Sohn angerichtet hatte.“