Bundestagswahl 2021

Klaus von Dohnanyi graut es vor Außenministerin Baerbock

| Lesedauer: 15 Minuten
Klaus von Dohnanyi war von 1972 bis 1974 Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, von 1969 bis 1981 Mitglied des Deutschen Bundestags und von 1981 bis 1988 Bürgermeister Hamburgs.

Klaus von Dohnanyi war von 1972 bis 1974 Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, von 1969 bis 1981 Mitglied des Deutschen Bundestags und von 1981 bis 1988 Bürgermeister Hamburgs.

Foto: imago stock / imago/teutopress

Der frühere Bundesminister und Hamburger Bürgermeister räumt zudem ein, dass seine Lieblingskoalition wenig Chancen hat.

Hamburgs früherer Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) ist der letzte lebende Minister der ersten Regierung unter Willy Brandt. Der Hamburger half 1969 mit, ein sozialliberales Bündnis zu schmieden. Im großen Gespräch mit dem Abendblatt erinnert er sich an die Wahlkämpfe von früher und spricht über die zentralen Herausforderungen für die neue Bundesregierung.

Sie wurden 1969 in den Bundestag gewählt und haben schon Wahlkämpfe bestritten, als wir noch nicht einmal geboren waren. Wie nehmen Sie den Wahlkampf heute wahr?

Klaus von Dohnanyi Was mich schon damals beschäftigt hat und mich bis heute beschäftigt, ist die Aufrichtigkeit im Wahlkampf: Die Leute erwarten, dass man ihnen die Wahrheit sagt. Und das muss man auch tun. Es ist falsch, sich immer anzupassen. So habe ich es auch versucht, in Hamburg zu halten. Wenn man sagt, was man für richtig hält, bekommt man gelegentlich Ärger. Vor allem aber gewinnt man Zustimmung.

Wurde früher im Wahlkampf mehr über Inhalte und Alternativen diskutiert?

Klaus von Dohnanyi Aber sicher. In meiner Zeit in der Bundesregierung und als Bürgermeister in Hamburg haben wir mehr über Inhalte geredet. Man muss immer versuchen, in einer Sprache Wahlkampf zu machen, die die Menschen verstehen. Dann kann man auch komplexe Dinge erklären.

Heute reden wir mehr über Lacher und Lebensläufe statt Lösungsansätze …

Klaus von Dohnanyi Personen waren immer wichtig. Erinnern Sie sich an „Willy wählen“. Trotzdem führen wir in Deutschland heute zu selten eine Debatte über die wirklich wichtigen Fragen. Nehmen Sie das Beispiel Klimaschutz. Natürlich ist Klimaschutz wichtig, aber in erster Linie müssen wir die Menschen schützen und nicht das Klima! Wir reden über das Klima 2050. Aber Ahrweiler war gestern. Die Grünen diskutieren nicht über den Schutz der Menschen, sondern über Ziele in 30 Jahren. Was wir dabei ausblenden: Deutschland verursacht noch nicht einmal zwei Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes.

Das ist kein Argument fürs Abwarten...

Klaus von Dohnanyi Natürlich nicht, wir müssen die Klimaziele erreichen, aber auch wissen, dass wir so den Klimawandel nicht aufhalten. Der ist längst da! Wir müssten deswegen schon jetzt für heute und morgen planen, um die Menschen vor den Folgen zu schützen. Ahrweiler war ein Signal. Entscheidend ist oft die frühzeitige Planung: Könnte bei zunehmender Dürre die Wasserversorgung von Hamburg gefährdet sein? Da müssten wir heute mit Planungen anfangen. Brauchen wir ein Sperrwerk an der Mündung der Elbe? Und so weiter ... Wir übersehen die Folgen des Klimawandels, die schon spürbar sind und reden nur über die Klimaschutzziele in 30 Jahren!

Fehlt Ihnen die Wahrheit in diesem Wahlkampf?

Klaus von Dohnanyi Ja, natürlich. Rundum.

Sie sagten, mit Wahrheit gewinnt man Wahlen. Ist nicht die Realität der vergangenen Jahre eine andere? Auch Olaf Scholz betont, wir bräuchten nicht so radikale Einschnitte, wie die Grünen sie fordern.

Klaus von Dohnanyi Wahrheit heißt nicht, dass man alle Einzelheiten ausbreitet. Wahrheit ist, dass man die Richtungen zeigt, wohin der Weg gehen soll. Die Wahrheit über Europa etwa ist, dass es die europäische Politik in den letzten Jahren nicht geschafft hat, die Länder wirklich zusammenzuführen. Manches hat man übers Geld erreicht. Der große Wiederaufbaufonds ist natürlich ein Bindemittel. Aber über Geld wird man auf die Dauer keine Gemeinschaft herstellen. Wir sollten lieber diskutieren, wie Europa bei und mit aller Verschiedenheit zu einer gemeinsamen, faszinierenden Aufgabe werden kann.

Ich habe keinen Wahlkampf erlebt, in dem Europa eine so geringe Rolle spielte.

Klaus von Dohnanyi Richtig. Auch dieser Punkt fehlt mir in der öffentlichen Debatte. Europa, das sind 27 verschiedene Staaten mit 24 verschiedenen Sprachen. Und die EU-Kommission versucht, alle über einen Leisten zu schlagen. Das wird nie funktionieren. Das habe ich schon gesagt, als ich zuständig war für die Koordinierung der Europapolitik in der Bundesregierung nach 1968. Dieser Zentralismus birgt Gefahren. Die Briten sind raus. Und wenn die Polen auf einer Insel leben würden und groß genug wären, würden sie auch gehen.

Fürchten Sie den Polexit?

Klaus von Dohnanyi Nein. Die Leute werden mit Geld zusammengehalten. Aber so kann man keine Loyalität und keine Gemeinschaft herstellen. Brüssel kann doch nicht androhen, bei ungebührlichem Verhalten das Taschengeld zu entziehen! Man muss Loyalität herstellen. Warum wollen die Menschen Europa den Rücken zuwenden? Weil man ihnen zu sehr in die eigenen Strukturen greift. Die EU muss anders regiert werden.

Was müsste denn jetzt konkret passieren in Europa? Welche Reformen schweben Ihnen vor?

Klaus von Dohnanyi Wir dürfen uns jedenfalls nicht von der Einstimmigkeit verabschieden. Will das die SPD wirklich? Mehrheitsentscheide in der Außenpolitik? Das wäre aus meiner Sicht ein Fehler. Sie können doch Deutschland nicht von 26 anderen Staaten in wichtigen Fragen überstimmen lassen! Wo bleibt da die Demokratie, die braucht doch Vertrauen.

Wie gewinnen wir dieses Vertrauen?

Klaus von Dohnanyi Indem man Dinge gemeinsam macht, die man gemeinsam machen kann. Und die anderen Dinge diskutiert, bis sie reif sind. Das Fundament Europas bleiben die verantwortlichen Nationalstaaten. Die EU könnte einen Katastrophenschutz über ganz Europa ausspannen. Es gibt Bedürfnisse in Europa, die man erfüllen kann. Darauf sollten wir uns konzentrieren.

Was werden denn neben Europa und Klimaschutz die größten Herausforderungen für eine neue Regierung?

Klaus von Dohnanyi Ein großes Problem wird die Außenpolitik werden. Der aktuelle Konflikt zwischen Frankreich auf der einen Seite und Großbritannien, den USA und Australien zeigt, dass Konflikte im Fernen Osten Auswirkungen in Europa haben werden. Die bisherige Politik gegenüber Russland war ein großer Fehler: Sie hat das Land an die Seite Chinas getrieben. Ich habe im Jahr 1973 als Bundesminister China besucht. Mein Gastgeber damals war Deng Xiaoping, ein ungeheuer eindrucksvoller Mann. China hatte damals vor nichts so viel Sorge wie vor einem Angriff der Sowjetunion. Heute ist Russland ein Alliierter Chinas! Das war das Werk des Westens, einer verfehlten Russlandpolitik, insbesondere wegen der Nato-Erweiterung. Druck auf China könnte heute dazu führen, dass Russland als nun Alliierter Chinas seinerseits in Europa Druck macht.

Dieser Druck ist ja schon spürbar …

Klaus von Dohnanyi Henry Kissinger hat sich kürzlich dazu geäußert. Manche vergleichen die Situation heute schon mit der Zeit vor 1914, als Großbritannien versucht hatte, Deutschlands Aufstieg zu blockieren. Heute haben wir eine ähnliche Lage zwischen den USA und China.

Haben Sie Sorgen, dass wie 1914 der Machtkampf in einem Krieg eskaliert?

Klaus von Dohnanyi Auch 1914 wollte keiner den Krieg, aber am Ende ist so viel Druck entstanden, dass es zum Weltkrieg kam. Europa muss dazu beitragen, dass es zwischen den USA und China nicht zu bedrohlichen Spannungen kommt, die könnten dann auch Europa treffen.

Die Lage ist gefährlich. Wie sollten wir uns denn im Konflikt der USA mit China und mit Russland positionieren?

Klaus von Dohnanyi Wir sollten uns in die Konflikte im asiatischen Raum nicht hineinziehen lassen. Ich halte Putin auch nicht für einen zuverlässigen Menschen, aber im deutschen Interesse kann es nicht sein, dass in Europa jemand uns feindlich gesonnen ist. Wir müssen deswegen mit Putin im Gespräch bleiben.

Also sollte Europa freundlicher mit Putin umgehen?

Klaus von Dohnanyi Sachlicher. Wir haben kein Interesse daran, die Russen auf die Seite der Chinesen zu treiben. Unsere nationalen Interessen müssen im Vordergrund stehen. Ein Machtkampf mit China liegt nicht in unserem Interesse.

Liegt es nicht im deutschen Interesse, seine eigenen Interessen etwas zurückzunehmen?

Klaus von Dohnanyi Das kommt immer auf den Einzelfall an. Unser Interesse kann natürlich auch im Nachgeben oder im Kompromiss liegen. Man muss nur wissen, was man will – und was man kann! Man sollte sich nicht Dinge vornehmen, die nicht klappen können – wie Russland über Nacht durch Wirtschaftssanktionen zu einer Demokratie zu machen! Pragmatismus ist wichtig. Das hat Frau Merkel exzellent gemacht. Sie wusste, was wir können und was nicht. Mit Kompromissen hat sie in Europa viel geschafft.

Deutschland muss also ganz auf Entspannungspolitik setzen?

Klaus von Dohnanyi Aber ja! Deutsche Entspannungspolitik der Brandt-Jahre könnte Vorbild in Europa sein. Das sehen die Amerikaner anders: Schon die ersten Siedler waren ja Eroberer, die USA wurden gewissermaßen mit dem Colt geboren. Das ging ja auch nicht anders. Eroberungen sind ihre Geschichte. So haben sie sich Florida geholt, so haben sie sich New Mexico geholt und Texas.

Mehr Pragmatik, weniger Moral?

Klaus von Dohnanyi Da bin ich ganz bei Helmut Schmidt: „Es ist sehr gut, dass wir auf unsere Werte achten, aber wir müssen nie versuchen, sie anderen Leuten beizubringen.“ Das ist auch meine Grundüberzeugung. Es ist gefährlich, wenn die Amerikaner nun den Chinesen ihre Werte beibringen wollen. Das funktioniert nicht. Ich halte es auch für völlig illusorisch zu glauben, dass wir Russland mit ein paar Sanktionen dazu bringen, sein System zu verändern. Die Länder haben alle ihre eigene Geschichte!

Kommen wir zum Thema Wirtschaft: Reden wir zu viel über die Verteilung von Wohlstand und zu wenig darüber, wie wir ihn erwirtschaften?

Klaus von Dohnanyi Ja. Und daran hat auch Brüssel eine Schuld mit der Regelmanie. Brüssel kann nur wenig von Industriepolitik verstehen, denn die muss in allen 27 Mitgliedstaaten anders sein! Kürzlich haben wir 50 Jahre Airbus gefeiert. An der Airbus-Entscheidung 1969 war ich ja beteiligt. Es gelang, weil damals zwei Unternehmen beteiligt waren, nicht ganz Europa. Wenn die Kommission sich damals eingemischt hätte, hätten wir das nicht akzeptiert. Man kann nicht mit 27 Ländern ein Produkt machen. Damals waren wir noch freier, Kredite und Bürgschaften zu geben; ab 200.000 Euro müssen wir heute Beihilfen anmelden. In den USA kann jeder Bundesstaat auch eine Milliarde Dollar für Unternehmensbeihilfen ausgeben, ohne dass jemand fragt.

Unbestritten ist, dass Deutschland mehr investieren muss. Aber woher soll das Geld kommen?

Klaus von Dohnanyi Wir haben zwei Billionen Euro in den Aufbau Ost investiert. Trotzdem hatten wir vor Corona unsere Verschuldung unter die Marke von 60 Prozent gedrückt. Es geht also, wenn man es richtig macht. Wir brauchen mehr Freiheit, um neue Dinge zu tun und voranzubringen. Da bin ich bei Christian Lindner. Unternehmen brauchen Freiheit.

Müssen wir mehr Schulden machen? Oder ist die schwarze Null heilig?

Klaus von Dohnanyi Die Schuldenbremse würde ich nicht anrühren. Man kann sie auf Zeit aussetzen. Es wäre aber ein Fehler, sie abzuschaffen.

Was halten Sie von Steuererhöhungen?

Klaus von Dohnanyi Ein Teil des Mittelstandes, viele Handwerker zum Beispiel, können private und geschäftliche Umsätze nur schwer trennen. Wenn Sie jetzt die Steuern erhöhen, erschweren Sie diesen mittleren und kleinen Unternehmen ihr Leben. Ich würde jetzt in und auch nach Corona Steuern lieber nicht erhöhen. Ein höherer Satz für sehr reiche Leute, das wäre aus meiner Sicht eine vertretbare Sache; Folgen müsste man aber sorgfältig prüfen; keine Entscheidung aus Klassenkrieg!

Gibt es eine Koalition, die die Probleme, die wir angesprochen haben, in Ihren Augen am besten zu lösen vermag?

Klaus von Dohnanyi Ja, aber das ist eine Koalition, die wahrscheinlich nicht zustande kommt. Mein Lieblingsbündnis besteht aus SPD, CDU und FDP mit einem Kanzler Olaf Scholz. Ich fürchte die Grünen, weil ich bei Frau Baerbock zu viel spontane Naivität sehe. Dass sie Außenministerin würde, kann ich mir wirklich nur mit Schrecken vorstellen. Aber meine Lieblingskoalition kommt wohl nicht zustande, weil es der SPD kaum zumutbar wäre, eine Mehrheit im Kabinett zu haben, die eher „schwarz“ ist. Und mit SPD-Grüne-FDP hätten die Liberalen Probleme. Rot-Rot-Grün passt auf dem Papier am besten zusammen, aber ich fände es gefährlich, weil in dieser Kombination außer bei Olaf Scholz im Augenblick überhaupt kein ökonomischer Sachverstand zu sehen ist.

Glauben Sie, dass Olaf Scholz Rot-Rot-Grün machen würde?

Klaus von Dohnanyi Er wird alles andere durchdeklinieren. Aber wenn nichts anderes geht, was bleibt dann übrig? Ich denke, er hat das nur ins Gespräch gebracht, um die FDP unter Druck zu setzen.

Glauben Sie an Jamaika?

Klaus von Dohnanyi Es kann sein, dass die CDU versucht, was wir Sozialdemokraten 1969 gemacht haben: Damals hatte Kiesinger (CDU) eigentlich die Wahl gewonnen. Scheel (FDP) hatte mir bei einem privaten Abendessen zu Hause gesagt, er werde auch bei knappester Mehrheit eine sozialliberale Koalition versuchen. Ich saß in der Wahlnacht bei Willy Brandt im Zimmer und fragte ihn, ob ich nicht sofort Scheel anrufen sollte; denn wenn es geht, dann nur schnell. Ich habe dann mit Scheel telefoniert – und als ich zurückkam, stand Wehner in der Tür von Brandt und diktierte gerade einem Journalisten in den Block: „Doch nicht mit dieser Pendlerpartei“. Wir haben dann zwölf Jahre erfolgreich „gependelt“!

Ist Deutschland reif für Modelle, wie es sie in anderen Ländern schon gibt? Eine Tolerierung, eine Minderheitsregierung oder wechselnde Mehrheiten?

Klaus von Dohnanyi Das wird möglicherweise passieren. Aber unser Land ist durch eine schwierige Geschichte gegangen, für uns ist Stabilität ein besonders wichtiger Faktor. Unsere Republik ist auf wirtschaftliche Stabilität gegründet. Insofern wäre das Experiment gefährlich.

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