Hamburg. Am schönsten sind Frauen so, wie Gott sie erschaffen hat – Schneider können sie nur verderben. Sagte zumindest der Maler Paul Gauguin. Wie aber verhält es sich, wenn wir die Geschlechter vertauschen? Können Schneiderinnen Männer verderben? „Ich habe ein sehr gutes Gefühl, was einem Mann gefallen könnte, ich muss ihn nur kurz kennenlernen, dann weiß ich, was ihm wichtig ist“, sagt Anna Meyer.
Die Herrenschneiderin trinkt eine Tasse Weißen Tee in ihrem Atelier an der Weidenallee – und überlegt. Draußen in Eimsbüttel rasen Postboten vorbei, Mütter auf E-Bikes und sowieso die halbe Welt. In Gedanken geht Meyer alle Reaktionen ihrer Kunden bei der finalen Anprobe durch, also in dem großen Moment, wo jemand seinen (häufig ersten) Maßanzug anprobiert. 80 bis 90 Stunden Arbeit stecken in dem Stück.
Kleine „Fehler“ im Körperbau schneidert Anna Meyer weg
Und viel Liebe zum Detail. Eventuell sogar eine Haltung, und zwar die des Trägers. Er hat gemeinsam mit Meyer den Schnitt und die Stoffe bestimmt und mit ihr besprochen, wie er sich in dem Outfit fühlen möchte. Wie Superman? Wie ein Gentleman? Wie jemand, dessen Antrag man im Leben nicht ablehnt? Ein gutes Kleidungsstück kann dein Leben verändern (wenn es sich nicht gerade um eine Jogginghose handelt. Nein, ihr Rapper: auch nicht die von Kenzo oder Louis Vuitton).
Jedenfalls glaubt Meyer nach Zusammenfassung aller ihrer Kundenreaktionen, dass sie Männer wahrscheinlich tatsächlich glücklich macht. Dieses leichte Lächeln, wenn jemand etwas anzieht, das nur für ihn gemacht wurde. Das ihm auf den Leib geschneidert wurde. Das alle seine Unperfektheiten überdeckt und ausgleicht. Gab es vermeintliche Fehler? Jetzt nicht mehr. Anna Meyer schneidert sie weg. „Meine Arbeit besteht auch darin, Unebenheiten zu erkennen und auszugleichen“, sagt die 31-Jährige.
Durch sie sehen am Ende alle gut aus
Beispielsweise haben viele Menschen einen runden Rücken aufgrund ihrer Büroarbeit, oder durch einseitige Belastungen steht die eine Schulter höher als die andere. Dann verwendet die Schneiderin Schulterpolster, und bei einem etwas anders geformten Rücken muss sie mit dem Schnitt mitgehen, damit der Stoff perfekt aufliegt. „Ich nehme jede Körperform wie sie ist, und arbeite damit“, sagt die Hamburgerin. „Es sollen sich ja auch diejenigen wohlfühlen, die nicht in eine Konfektionsgröße passen.“ Meyers Arbeit gleicht einem Instagram-Filter.
Durch sie sehen am Ende alle gut aus. „Komisch, ich spüre die Kleidung kaum“, sagen viele Kunden dann erstaunt. Dabei ist ein Maßanzug durch den qualitativ hochwertigen Stoff und Einlagen aus Rosshaar meist schwerer als ein Teil von der Stange. Eine zweite Haut, die wirklich passt, scheint jedoch nicht so sehr ins Gewicht zu fallen.
Das Bügeln ist das A und O im Schneiderhandwerk
Meyer geht in ihrem Atelier umher. Schnittmuster hängen fein säuberlich nebeneinander, an den Wänden Lineale, Winkel und Armlochschablonen. Auf dem Arbeitstisch Gewichte zum Beschweren der Stoffe, Maßbänder und Stoffproben, im Hinterraum eine Bügelanlage. Will man schnell dran vorbeihuschen, aber von wegen! Als Laie hätte man es nie vermutet, aber im Schneiderhandwerk stellt das Bügeln das A und O da. „Was du beim Bügeln machst, ist entscheidend für das Endergebnis“, erklärt die Fachfrau. „Beim Bügeln dressiere ich die Stoffe.“ Ah. Meyer wuchs auf einem Ponyhof in Niedersachsen auf, sollte man dazu wissen. „Nein, nein, dieser Arbeitsgang in der Schneiderei nennt sich wirklich Dressur.“
Mithilfe von Wärme und Druck kann ein geübter Bügler die Fasern eines Stoffes nämlich so formen, wie er will. Funktioniert allerdings nur mit Naturmaterialien, Mikro- und Hightech-Stoffe sind resistent. Chemie und Ponyhof – sie passen nicht zusammen.
Als Gewandmeisterin schneidert sie Kostüme
Meyer nimmt einen Katalog in die Hand und zeigt handgewebten Harris-Tweed aus Schottland, Tuche aus englischen Webereien, Originalstoffe aus den 60er-Jahren. Wer einen bestimmten Wunsch für seinen Frack, Cut oder Smoking hat, für den begibt sich die Schneiderin auch auf die Suche nach passenden Vintagestoffen. „Ich bewege mich gerne durch die modischen Formsprachen aller Epochen“, erklärt Meyer, die nämlich nicht nur ausgebildete Herrenschneiderin, sondern auch Gewandmeisterin ist.
Eine Gewandmeisterin schneidert die Kostüme bei Theater- oder Operninszenierungen; Anna Meyer kennt sich daher in vielen Stilepochen und in der Kunstgeschichte aus. Sie muss in der Lage sein, eine französische Ballrobe aus dem 16. Jahrhundert genauso herstellen können wie Elfenflügel, mittelalterliche Gewänder, Hosenanzüge aus den 1920er-Jahren oder komische Spezialanfertigungen. Und das ganze niet- und nagelfest, denn Bühnen-Outfits müssen extrem viel aushalten, nicht nur gut aussehen.
Leidenschaft für große Auftritte
Als Expertin für Richard Wagner kennt Meyer alle seine Opern und Figuren, denn sie muss sie einmal im Jahr einkleiden. Jeden Mai verlässt die junge Frau Hamburg für ein paar Wochen, um bei den Bayreuther Festspielen als Gewandmeisterin zu arbeiten. Während dieser Zeit kann sie ihre ganze Leidenschaft für große Auftritte, Verwandlung und Spielfreude ausleben. Die Hamburgerin kümmert sich um die Solisten, aber auch um den 60-köpfigen Chor, bis zur Premierenvorstellung arbeitet sie sechs Tage fast rund um die Uhr: „Wir powern dann richtig durch, eine wahnsinnig tolle Atmosphäre haben wir in unserem Team.“
Viele der Schneider und Handwerker kennen sich, manche kommen seit 20 Jahren jeden Sommer nach Bayreuth, um bei den Festspielen auszuhelfen. Für Meyer als Solokünstlerin eine willkommene Abwechslung. Sie arbeitet sonst stets alleine. Manchmal sitzt sie in ihrem Schaufenster und stickt stundenlang vor sich hin. Am Anfang habe ihr die Ruhe etwas ausgemacht, inzwischen empfindet sie sie als meditativ. Manchmal hört sie Podcasts, aber meistens „bin ich einfach nur mit meinen Gedanken alleine und mache Pläne“.
Einmal ihre große Stilikone treffen
Einmal ihre große Stilikone treffen beispielsweise, den Designer Shaun Gordon, der in London ein Label für handgefertigte Krawatten aus besonderen Stoffen führt. „Seinen Stil würde ich als Interpretation der 40er- bis 60er-Jahre bezeichnen. Ein bisschen oldschool, ein bisschen Vintage und ein bisschen Dandy“, erklärt Meyer. Die Dandys haben es ihr angetan, sie gewannen im Biedermeier an Popularität, womit sich auch der Name ihres Ateliers in Kombination mit ihren Nachnamen erklärt: Biedermeyer.
„Meine Lieblingsepoche. In ihr entstand ein neues männliches Schönheitsideal.“ Die Formen wurden runder und weicher. Um die gewünschte Silhouette zu erreichen, ließen sich auch Herren in einem Korsett einschnüren. Sie gaben in ihren farbigen Röcken mit schwingenden Schößen, Spazierstock und Handschuhen oft eine puppenhafte Erscheinung ab, fast wie die Damen.
Ihre beiden wichtigsten Begleiter
Anna Meyer nimmt ihre beiden wichtigsten Begleiter in die Hand: eine goldene Schere und einen Nähring. Die Schere kommt aus Japan, die haben da eine besondere Schleiftechnik. „Kein Schneider gibt seine Schere aus der Hand, sie ist mein Heiligtum“, erklärt die stolze Besitzerin. Und der Nähring scheint ihr Präventiv-Pflaster zu sein. „Ohne ihn würde ich mich ständig piksen. In vielen qualvollen Stunden meiner Ausbildung habe ich gelernt, richtig damit umzugehen.“
3 Fragen
- 1. Welches ist Ihr wichtigstes persönliches Ziel der nächsten drei Jahre? Schöne Momente zu genießen.
- 2. Was wollen Sie in den nächsten drei Jahren beruflich erreichen? Meinen Anzug auf dem Titelbild der „GQ“ sehen.
- 3. Was wünschen Sie sich für Hamburg in den nächsten drei Jahren? Aufgrund der aktuellen Lage: Erhalt und Ausbau der kulturellen Vielfalt.
Und was ist eigentlich das große olle Ding da? Ups, das Herz der Produktion. Eine Dürkopp-Nähmaschine aus den 1950er-Jahren. Sieht aus wie eine Antiquität. „Ich will keine neue, diese näht sogar Leder, robuster geht es nicht“, sagt die Schneiderin. Die alte Maschine konnte sie ergattern, als ein Schneider seine Werkstatt auflöste. In dem Beruf fehlt der Nachwuchs. Kein Wunder, wer will sich schon die Finger zerstechen, wenn er als Programmierer das Vielfache verdient und dabei am Arbeitsplatz schicke Kopfhörer tragen, Tischtennis spielen und kostenlos Bionade trinken darf?
Ein T-Shirt ist für drei Euro nicht herstellbar
Ob sie von ihrer Arbeit leben kann? In Zeiten von Corona ist das natürlich besonders schwierig. Die Menschen verzichten in der Krise auf Luxus, und ein Anzug für 2000 Euro darf getrost als Luxusprodukt bezeichnet werden. „Vielleicht bringt es die Menschen aber auch zum Nachdenken. Vielleicht gönnen sie sich lieber ein besonderes, nachhaltiges Stück, bei dem sie genau wissen, wie und von wem es unter welchen Bedingungen hergestellt wurde“, hofft Meyer.
Sie ist tapfer und bleibt zuversichtlich. Denn inzwischen müsste allen klar sein, dass ein T-Shirt für drei Euro nicht herstellbar ist, ohne Menschen und/oder die Umwelt auszubeuten, glaubt sie, die ihre Ausbildung als Jahrgangsbeste abschloss und nun Männer ein Lächeln und eine aufrechte Haltung verpasst: „Wäre doch schade, wenn nur die industrielle Produktion übrig bliebe.“ Vor allem für die Männer.
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