Justiz

Immer mehr Menschen nehmen das Gesetz in die eigene Hand

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Peter Ulrich Meyer
Der scheidende Verfassungsgerichtspräsident Friedrich-Joachim Mehmel im Plenarsaal des Hanseatischen Oberlandesgerichts, wo auch das Verfassungsgericht tagt.

Der scheidende Verfassungsgerichtspräsident Friedrich-Joachim Mehmel im Plenarsaal des Hanseatischen Oberlandesgerichts, wo auch das Verfassungsgericht tagt.

Foto: Roland Magunia

Scheidender Präsident des Verfassungs- und des Oberverwaltungsgerichts plädiert für Einsatz für den Rechtsstaat.

Hamburg.  Fototermin im ehrwürdigen Plenarsaal des Hanseatischen Oberlandesgerichts: Hier hat Friedrich-Joachim Mehmel als Präsident die Verfahren des Verfassungsgerichts geleitet. Heute wechselt Hamburgs höchster Richter, der zugleich auch Präsident des Oberverwaltungsgerichts ist, in den Ruhestand. Plötzlich stellt sich Mehmel in die Mitte des Raumes. „Genau hier stand ich bei meiner zweiten mündlichen Prüfung im Ersten Staatsexamen. Ich war durch die erste Prüfung gefallen. Es ging um alles“, erzählt Mehmel. „Ich bekam eine Vier, und als ich aus dem Raum war, habe ich einen spitzen Freudenschrei ausgestoßen“, sagt Mehmel und lacht sein ansteckend-schelmisches Lachen.

Auf den etwas holprigen Start folgte eine herausragende juristische Karriere. Mehmel übt den Beruf des Richters bis zum letzten Tag „mit Leidenschaft“ aus, wie er selbst sagt. Dafür spricht auch, dass er vor Kurzem seinen 67. Geburtstag gefeiert hat, also deutlich über die übliche Pensionsgrenze hinaus gearbeitet hat. Er hat stets über den Tellerrand des Richterberufs hinausgeblickt, eine Mediationsausbildung gemacht, den Verein Rechtsstandort Hamburg mit gegründet und sich auf internationaler Ebene unter anderem für die Einführung mediativer Elemente in staatlichen Gerichten engagiert. Es ist kein Zufall, dass das Gespräch mit der Ausbildung des juristischen Nachwuchses beginnt.

Hamburger Abendblatt: Herr Mehmel, Sie blicken auf fast 40 Jahre im Richterdienst zurück. War es damals leichter als heute, Richter zu sein?

Friedrich-Joachim Mehmel: Ob es jetzt schwieriger ist, hängt davon ab, ob der Schwierigkeitsgrad der Fälle größer geworden ist. Großverfahren im Kapitalmarktrecht haben sicherlich eine neue Qualität erreicht. Das Europarecht und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs haben das Planungsrecht verändert und anspruchsvoller gemacht. Im Asyl- und Ausländerrecht haben wir deutlich mehr Aspekte zu beachten, als dies Anfang der 80er-Jahre der Fall war. Aus der Perspektive eines Berufsanfängers ist das, glaube ich, ziemlich egal: Man kommt in ein neues Umfeld und hat das, worum es wesentlich geht, nie gelernt. Man hat nie gelernt, wie man eine Verhandlung führt und mit Konflikten umgeht. Was man gelernt hat, ist Klausuren zu schreiben, Fälle zu lösen.

Muss als Konsequenz nicht dann die Juristenausbildung verändert werden?

Mehmel: Ein sehr deutliches Ja. Zwei Dinge müssen dringend in den Blick genommen werden: Die Aufgabe von Juristen ist Streitbeilegung, Streitlösung. Da gibt es in der Praxis unterschiedliche Strategien. Streitige Entscheidungen durch Urteile, aber auch einvernehmliche Lösungen zwischen den Streitparteien, die zum Beispiel auch im Wege der Mediation erreicht werden können, oder Schiedsverfahren. In der Juristenausbildung haben wir aber überwiegend nur gelernt, einen Konflikt zwischen Menschen, zwischen Staat und Bürger auf eine juristische Fallfrage zu reduzieren. Es geht nur um Ja oder Nein: Kann ich die Waschmaschine zurückgeben? Bekomme ich die Baugenehmigung? Hinter vielen Streitigkeiten können aber Konfliktursachen stehen, die wir als Richter nicht mitbekommen, die aber für eine dauerhafte Konfliktlösung mit in den Blick genommen werden müssten. Wir müssen auch lernen, was die Ursachen von Konflikten sein können. Es geht also darum, die Aspekte Recht und Konfliktlösung sowie Recht und Kommunikation schon in der Ausbildung zu verankern. Darüber hinaus sollte man mit den Auswirkungen von Künstlicher Intelligenz und Digitalisierung auf die juristischen Berufe vertraut gemacht werden und die notwendige Kompetenz im Umgang damit erlernen.

Wie hat sich der Blick auf die Justiz und deren Stellenwert in der öffentlichen Debatte verändert?

Mehmel: Die Bedeutung der Justiz und allgemeiner des Rechtsstaats ist ein Stück weit aus dem Blick gekommen. In den Parlamenten wurden Gerichte eine Zeit lang nur ökonomisch betrachtet als Orte, bei denen man sparen kann. Jetzt wurde die Notbremse gezogen. In letzter Zeit hat die Politik möglicherweise auch wegen der Entwicklung in Polen, Ungarn oder den Vereinigten Staaten erkannt, wie schnell Elemente des Rechtsstaats gefährdet sein können. Auch in Hamburg sind neue Stellen in der Justiz geschaffen worden. Es gibt aber auch wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit der Justiz.

Woran machen Sie das fest?

Mehmel: Immer mehr Menschen haben offensichtlich das Gefühl, selbst bestimmen zu können, was Recht und Gesetz ist. Sie empfinden das, was um sie herum geschieht, oft als ungerecht. Ich nenne das gefühlte Rechtsstaatslosigkeit. Das geht durch alle Schichten. Eine Erklärung ist: die Auflösung herkömmlicher Milieus wie Kirchen, Gewerkschaften und Parteien. Außerdem ist der Einfluss der neuen sozialen Medien nicht zu unterschätzen. Es passiert unglaublich viel an Kommunikation außerhalb unserer bürgerlichen, traditionellen Kommunikationsorte. Ganz viel an Meinungsbildung läuft unterhalb dieser Ebene.

Was muss geschehen?

Mehmel: Hier ist Politik, Rechtspolitik zumal, aufgefordert, darauf zu reagieren. Das sind schwierige Fragen, die den Rahmen dieses Interviews sprengen würden. Aber ich will andererseits sehr deutlich sagen: Wir leben in einem funktionierenden demokratischen Rechtsstaat. Ich habe Probleme benannt, aber wir klagen auf hohem Niveau. Dennoch ist es das Gebot der Stunde, sich selbstbewusst und offensiv für den Rechtsstaat und Demokratie einzusetzen. Es ist auch an uns, den Kopf herauszuhalten und aufzustehen, um für das Recht zu werben. So verstehe auch meine Rolle als Präsident zweier Gerichte und als Initiator des Vereins Rechtsstandort Hamburg.

Was bedeutet das für das Selbstverständnis von Richterinnen und Richter?

Mehmel: Wir sind die Botschafter des Rechtsstaats. Wir erwecken ihn mit Leben durch die Art und Weise, wie wir mit Menschen umgehen, wie wir Urteile schreiben, ob sie verständlich und nachvollziehbar sind und sich die Menschen ernst genommen fühlen mit ihrem Anliegen. Für die meisten Menschen ist der Rechtsstaat nichts Abstraktes, sondern das, was sie konkret erfahren. Da haben wir Richter eine Schlüsselstellung.

Sie haben sich früher politisch engagiert und sind Mitglied der SPD. Hat es Sie gereizt, die Seite zu wechseln, in die Politik zu gehen?

Mehmel: In die Parteipolitik nie. Es gab aber eine Zeit, in der ich mir vorstellen konnte, Justizsenator zu werden, um rechtspolitisch gestaltend tätig zu werden. Das ist etwa 20 Jahre her. Es hat sich anders entwickelt.

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Sie waren vier Jahre lang Präsident des Verfassungsgerichts. Gibt es Entscheidungen, die Ihnen besonders wichtig sind?

Mehmel: Ich will nur das Verfahren nennen, bei dem wir über die Volksinitiative zu einem weiteren Ausbau der Volksgesetzgebung zu entscheiden hatten. Das Gericht hat einstimmig festgestellt, dass das mit der Hamburger Verfassung nicht vereinbar sei. Das Grundgesetz und in der Folge auch die Hamburger Verfassung gehen von einem Prä der parlamentarischen Demokratie aus.

Was machen Sie in Zukunft?

Mehmel: Ich werde mich daran orientieren, was mich geprägt hat und mir wichtig gewesen ist: mich für den Rechtsstaat und die Demokratie zu engagieren.

Heißt das auch, eventuell doch noch Justizsenator zu werden?

Mehmel: Das steht nicht auf meiner Agenda.

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