Hamburg. Aus ein paar Fotos wurde eine Passion: Seit 30 Jahren beschäftigt sich der Poppenbütteler mit den alten Grenzen in der Hansestadt.

Die Scherben, die Wolf-Rüdiger Wendt auf dem Tisch ausbreitet, sehen auf den ersten Blick aus wie das, was sie sind. Scherben halt. Doch die Keramik- und Glasbruchstücke sind sogenannte Zeugen. Der 78-Jährige hat sie unter einem Grenzstein gefunden. Man hat diese kleinen Extras früher unter die eigentlichen Grenzmarkierungen gelegt, um zu kennzeichnen, dass der Grenzstein korrekt gesetzt war. „Sonst kam Bauer Harms und hat ihn versetzt, weil ihm die Koppel des Nachbarn noch besser gefallen hat“, sagt Wendt.

Aber da gab es ja die Zeugen, „und von denen wusste Bauer Harms nichts.“ Bauer Harms ist natürlich fiktiv, aber die Tendenz, Grenzen zugunsten der eigenen Ländereien zu versetzen, habe es immer schon gegeben, sagt Wendt. Grenzstreitigkeiten habe es immer und überall gegeben. Früher habe man Eichen gepflanzt oder Pfähle in die Erde getrieben, später folgten Steine.

Diese historischen Grenzsteine sind das Faible des pensionierten Vermessungsingenieurs, man könnte auch sagen, seine Berufung. Seit etwa 30 Jahren beschäftigt sich der Hamburger mit den alten Grenzen in der Hansestadt. Denn Hamburg war ja nicht immer die ausgedehnte Großstadt, die sie heute ist. Und so geben die oftmals versteckten Grenzsteine Hinweise darauf, wie das Stadtgebiet früher aufgeteilt war.

Seine Dokumentation schickt er ans Denkmalschutzamt

Während seiner Berufstätigkeit für die Hamburger Stadtentwässerung sei er viel herumgekommen, sagt der Hamburger, der nach 43 Berufsjahren 2004 in den Ruhestand ging und seither noch viel mehr Zeit für die Grenzsteine aufwendet. „Ich war früher im Außendienst, bei Wind und Wetter, oft in der Kanalisation“, sagt der Vermessungsingenieur.

Der Hamburger, der mit seiner Frau Heike in Poppenbüttel wohnt, hat sich im Obergeschoss seines Reihenhauses ein Büro eingerichtet, in dem er seine Erkenntnisse verwaltet und regelmäßig aktualisiert. Immer gegen 17 Uhr geht er nach oben und widmet sich seiner Lebensaufgabe. Ein Haufen Karten hängt dort an der Wand, außerdem gibt es viele historische Protokolle.

Durch berufliche Kontakte hatte er Zugang zu vielen Informationen aus dem Katasteramt. 450 Steine hat er zusammen mit seinen Mitstreitern schon erfasst, davon hat er etwa 200 selbst entdeckt. Wendt hat eine Gruppe von Gleichgesinnten um sich geschart, die sich immer mittwochs trifft. „Wir sind alles historisch interessierte Menschen und nennen uns ,Steinläuse‘“, sagt der sechsfache Großvater und lacht.

Bis 1979 lebte er in Eimsbüttel

Bis 1979 lebte er mit seiner Heike in Eimsbüttel. „Da verlief die dänische Grenze. Ich habe ein paar Grenzsteine gesehen und sie fotografiert“, erinnert sich der Ruheständler. Aus anfänglich nur ein paar Fotos entwickelte sich über die Jahre und Jahrzehnte seine Passion. „Alle reden immer nur über die dänische Grenze, aber wir haben so eine vielfältige Geschichte in Hamburg“, sagt Wendt. Sein Anliegen sei es, diese Grenzen, aber auch die Kenntnis darüber und ihre Zeugnisse zu erhalten.

Die Idee, seine Arbeitsergebnisse der Allgemeinheit zugänglich zu machen, sei früh entstanden. „Ich bin an das Denkmalschutzamt herangetreten.“ Dort scheint man froh zu sein, dass jemand die zeitaufwendige Arbeit ehrenamtlich macht: „Wolf-Rüdiger Wendt hat als ehemaliger städtischer Kollege im Amt für Kataster und Vermessung seinen Beruf zum Hobby gemacht. Er liefert heute wichtige Hinweise über Grenzsteine in der Stadt und arbeitet dabei ehrenamtlich eng und vertrauensvoll mit dem Denkmalschutzamt zusammen. Damit hilft er, unsere Geschichte besser zu verstehen und die Erinnerung an unsere Wurzeln wachzuhalten“, sagt Jana Schiedek, Staatsrätin für Kultur und Medien. Wendt sei ein außergewöhnlich gutes Beispiel für jemanden, der sich für das Gemeinwesen einsetzt. „Dafür danken wir ihm sehr.“

Diese Scherben, sogenannte Zeugen, lagen unter alten Grenzsteinen.
Diese Scherben, sogenannte Zeugen, lagen unter alten Grenzsteinen. © Marcelo Hernandez

Seine Unterlagen hat Wendt allesamt digitalisiert, immer am 1. Dezember eines Jahres schickt er einen USB-Stick mit aktualisierten Daten an das Amt. „Wenn sich jetzt jemand damit befasst, muss er nicht bei Adam und Eva anfangen.“ Der älteste Grenzstein in Hamburg sei von 1596, der jüngste von 1910. Und alle seien sie denkmalgeschützt.

Immer wieder neue Grenzmarkierungen

Wendt erfährt immer wieder von neuen Grenzmarkierungen. Am Höltigbaum etwa hatte vor nicht allzu langer Zeit ein Pilzsammler eine Metallscheibe mit dänischer Inschrift entdeckt. Sein Versuch, die Scheibe mitzunehmen, scheiterte, weil sie an einer unter der Erde liegenden Betonsäule befestigt war. Die Parkaufsicht wiederum vermutete einen Blindgänger und rief den Kampfmittelräumdienst. Tatsächlich markierte die Scheibe eine historische Grenze. „Von so etwas erfahre ich natürlich“, sagt der Vermessungsspezialist. Und so tue sich immer wieder etwas.

Beispielsweise am Campus des Universitätsklinikums Eppendorf (UKE), wo mitten durch das Klinikgelände die ehemalige dänische Grenze verläuft. Eppendorf gehörte zu Hamburg, Lokstedt zum Herzogtum Holstein und damit zu den dänischen Verwaltungsgebieten, später zu Preußen. Wendt hatte Kenntnis von einem Stein aus dem Jahr 1910, der in der Erde vergraben war. Bei Umbauarbeiten wurde er gesichert, konnte aber wegen eines Neubaus nicht an den originalen Standort zurückgebracht werden. Inzwischen wurde der Grenzstein vor dem Gebäude W 27 unter einer Rotbuche wieder aufgestellt. Die Aufschrift HP steht laut Wendt mit H für Hamburg, P für Preußen“.

Das „Groß-Hamburg-Gesetz“ 1937 brachte viele Änderungen

Die Bedeutung von „HP“ habe sich im Lauf der Zeit verändert. Nach dem Deutsch-Dänischen Krieg wurde das Herzogtum Holstein 1867 in den preußischen Staat eingegliedert“, erklärt Wendt. Dadurch wurde diese Grenze zu einer Grenze zwischen dem preußischem Lokstedt und dem Hamburger Ortsteil Eppendorf. Erst durch das „Groß-Hamburg-Gesetz“ vom 1. April 1937 gelangten neben den Städten Altona und Wandsbek zahlreiche preußische Gemeinden, unter anderem Lokstedt, zur Freien und Hansestadt Hamburg. Eine Tafel mit einer Inschrift erklärt die Bedeutung des Steins.

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Auch am Schulterblatt im Schanzenviertel ist die Grenze zwischen Altona (ehemals dänisch) und Eimsbüttel (Hamburg) im Pflaster gut zu sehen. Wenn auch vermutlich die wenigsten Kneipengänger darauf achten. Laut Wendt haben sich auch Berufsgruppen früher räumlich abgegrenzt. Etwa die Reeper und die Seiler auf St. Pauli. „Die brauchten ja ein festes größeres Terrain, um zu arbeiten, da wurden auch Grenzsteine gesetzt. Ebenso die Zimmerleute, „die hatten hinter dem heutigen Schauspielhaus ihre Grenzsteine“, so Wendt.

Mit seiner Heike ist er seit 56 Jahren verheiratet. Ihr kann er nichts mehr vormachen. Wenn er ihr mal wieder eine Radtour vorschlägt, weiß sie, dass ihr Mann mal wieder einen Grenzstein anvisiert, bei dem er etwas sichten oder überprüfen muss. Aber sie kennt das ja nun schon lange.

Das Abendblatt präsentiert die Aktion gemeinsam mit mehreren norddeutschen Zeitungen und NDR Info. Sonnabend: Warum Wintermoor noch einen Bahnhof hat.