Hamburg. Nach den Wahlen am 26. Mai werden die neuen Mitglieder der sieben Hamburger Bezirksversammlungen eine Einladung zu einer Schulung bekommen, in der sie über ihre Rechte und Pflichten aufgeklärt werden. Die Einladung kommt allerdings nicht aus dem jeweiligen Bezirksamt, sondern aus der Finanzbehörde.
Die Schulung der neuen Abgeordneten zentral durchzuführen ist vermutlich sinnvoll – einerseits. Andererseits ist es auch bezeichnend: In dem wuchtigen Backsteinbau am Gänsemarkt wird den Mitgliedern der Bezirksversammlungen gleich mal verdeutlicht, wer in Hamburg das Sagen hat (Senat und Bürgerschaft), wer die Dienstaufsicht über die Bezirke hat (die Finanzbehörde), was ein Bezirksabgeordneter ist und darf, und was er nicht darf und ist – Parlamentarier zum Beispiel. Denn entgegen weit verbreiteten Auffassungen ist eine Bezirksversammlung kein Regionalparlament, sondern nur ein Ausschuss der Bezirksverwaltung.
Bezirke sind in Verfassung abgesichert
Das ergibt sich aus Artikel 4 der Hamburgischen Verfassung: „In der Freien und Hansestadt Hamburg werden staatliche und gemeindliche Tätigkeiten nicht getrennt.“ Anders als in Flächenstaaten wie Schleswig-Holstein und Niedersachsen, die aus Hunderten rechtlich selbstständiger Gemeinden bestehen, ist Hamburg also eine „Einheitsgemeinde“. Weiter heißt es in Artikel 4: „Durch Gesetz sind für Teilgebiete (Bezirke) Bezirksämter zu bilden, denen die selbstständige Erledigung übertragener Aufgaben obliegt.“
Das Gute daran aus Sicht der Bezirkspolitiker: Die Bezirke sind sogar in der Verfassung abgesichert. Das Problematische ist die Formulierung „Erledigung übertragener Aufgaben“. Etwas überspitzt könnte man sagen: Im Gegensatz zu kleinen Umlandgemeinden, die eigene Steuern erheben, Baugebiete ausweisen und theoretisch nach Belieben Kindergärten oder Freibäder betreiben können, haben die Hamburger Bezirke gar keine eigenen Aufgaben, sondern sie erledigen nur, was der Senat in seiner Weisheit ihnen überträgt.
Verwicklung in Stones-Freikarten-Affäre
Das ist, wie gesagt, etwas übertrieben. Aber um den Gedanken einmal zu Ende zu denken: Im Gegensatz zur Bürgerschaft, die in Hamburg die Legislative oder erste Gewalt ist, ist eine Bezirksversammlung keine 1-b-Legislative, sondern sie stellt eine Beteiligung des Volkes an der Exekutive oder zweiten Gewalt dar. Anders als das Landesparlament haben Bezirksversammlungen dementsprechend auch keine Gesetzgebungskompetenz und kein Budgetrecht.
Besonders demütigend: Sie „wählen“ nicht mal den Bezirksamtsleiter, sondern schlagen ihn nur dem Senat vor, der ihn oder sie dann offiziell ernennt. Was keine Petitesse ist: Yvone Nische zum Beispiel war monatelang „gewählte“ Bezirksamtsleiterin in Hamburg-Nord, konnte den Posten aber nie antreten, weil der Senat die Ernennung wegen Nisches Verwicklung in die Stones-Freikarten-Affäre ausgesetzt hatte. Schließlich verzichtete die gewählte Amtsleiterin auf den Posten.
Senat könnte entscheiden, tut es aber nicht
Ohnehin kann der Senat theoretisch jede Bezirksangelegenheit an sich ziehen („evozieren“) und nach seinem Ermessen entscheiden. Das kommt zwar sehr selten vor, aber es kommt vor – zum Beispiel bei der Ansiedlung von Möbel Höffner in Eidelstedt und von Ikea in Altona, auch wenn die Evokation hier teilweise sogar im Sinne des Bezirks war.
Und noch eine Ungerechtigkeit: Obwohl der Arbeitsaufwand von engagierten Bezirksabgeordneten dem von Bürgerschaftsabgeordneten kaum nachsteht, ist ihre Entschädigung deutlich geringer: 369 Euro plus 30 Euro pro Sitzung und ein HVV-Ticket erhält ein Bezirksabgeordneter. Bürgerschaftsabgeordnete, die überwiegend auch keine Berufspolitiker sind, erhalten dagegen fast das Zehnfache – womit sie allerdings dennoch bundesweit die am schlechtesten entlohnten Landesparlamentarier sind.
Bezirkspolitik als Folter?
In diesem Sinne bringt nichts die Lage der Bezirke und ihrer Abgeordneten so anschaulich auf den Punkt wie das Schaubild, das den neuen Mitgliedern der Bezirksversammlung bei der Schulung nach der letzten Wahl 2014 gezeigt wurde: Das sind die Bezirksämter in einer Schraubzwinge eingeklemmt zwischen den Fachbehörden (die die fachliche und Rechtsaufsicht ausüben) und der Finanzbehörde, die die Dienstaufsicht hat.
Bezirkspolitik als Folter? Die Realität sieht glücklicherweise anders aus. Ein Blick ins Bezirksverwaltungsgesetz genügt, um zu sehen, dass die örtlichen Abgeordneten sehr wohl Einfluss haben: „Die Bezirksversammlung kontrolliert die Führung der Geschäfte des Bezirksamts“, steht dort. Und: „Sie kann in allen Angelegenheiten, für die das Bezirksamt zuständig ist, das Bezirksamt bindende Beschlüsse fassen.“
Jugendhilfeausschüsse sind einflussreich
Zwar sind Personalangelegenheiten davon ausgenommen, was insofern bedeutend ist, weil die Bezirke rund 80 Prozent der vom Senat zur Verfügung gestellten Mittel für Personal ausgeben. Dennoch ist die Spielwiese der Bezirkspolitiker noch groß genug: Vor allem beim Thema Stadtentwicklung reden sie ein entscheidendes Wort mit – schließlich sind es die Bezirksämter, die am Ende die Baugenehmigungen erteilen.
Auch die Jugendhilfeausschüsse sind durchaus einflussreich, denn sie entscheiden über die Verteilung nicht unerheblicher Mittel an Träger der Jugendhilfe mit. Nicht umsonst blieb der Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs (SPD) noch 13 Jahre lang parallel Vorsitzender des Jugendhilfeausschusses im Bezirk Hamburg-Mitte: Der gewiefte Sozialdemokrat und SPD-Kreisvorsitzende in Mitte sicherte sich so einen Teil seiner Machtbasis.
Bezirkspolitiker sind ein Machtfaktor
Man kann die Geschichte also auch von einer anderen Warte aus betrachten: Bezirksabgeordnete haben sehr wohl Einfluss, sie fühlen sich wie echte Parlamentarier und treten entsprechend auf. Ihre Beschlüsse sind nicht nur für das Bezirksamt bindend, sondern sie erwarten darüber hinaus, dass auch der Senat sie gefälligst respektiert.
Und der Bezirksamtsleiter ist auch keinesfalls nur eine Senatsmarionette: Nicht nur in historisch gewachsenen Bezirken wie Bergedorf und Harburg werden die Amtsleiter oft als „Bezirksbürgermeister“ hofiert, und zumindest bei politisch unterschiedlichen Konstellationen in Senat und Bezirk können sie ein Gegengewicht zur mächtigen Landesregierung bilden. Die Wahl bezieht ihre Spannung nicht zuletzt daraus, dass genau diese Situation nach dem 26. Mai eintreten könnte.
Deutlich mehr Bezirks- als Landespolitiker
Apropos: Die Beziehung zwischen Senat und Bezirken ist ein Spannungsverhältnis, das permanent neu austariert wird. Ob Anzahl und Zuschnitt der Bezirke oder ihre Befugnisse: Alles stand schon oft auf dem Prüfstand, nichts ist in Stein gemeißelt. Die Fronten zwischen Zentralisten und denen, die eher von Berliner Verhältnissen mit viel eigenständigeren Bezirken und einem schwachen Senat träumen, verlaufen quer durch alle Parteien.
Dabei gilt: Bürgerschaft und Senat legen sich trotz ihrer großen Machtfülle ungern mit den Bezirken an – schließlich gibt es in jeder Partei deutlich mehr Bezirks- als Landespolitiker, und an der Basis kommen Muskelspiele aus dem Rathaus oft nicht gut an. Es spricht also einiges dafür, die Verhältnisse nicht anzutasten.
Vor Ort will man mehr Entscheidungsfreiheiten
Einer, der dafür plädiert, ist Finanzsenator Andreas Dressel (SPD): „Die Verwaltungsstrukturen in Hamburg haben sich aus meiner Sicht bewährt“, sagt Dressel, der selbst lange Bezirksabgeordneter in Wandsbek war, bevor er in die Bürgerschaft ging und heute als Senator die Aufsicht über die Bezirke hat. „Der Senat hat die gesamtstädtischen Belange im Blick, und alles, was nicht auf Landesebene geregelt werden muss, managen die Bezirke bürgernah vor Ort.“
Auf die Frage nach mehr Macht und Budgethoheit für die Bezirke sagt er: „Ich empfehle einen Blick nach Berlin, wo die Bezirke eine sehr viel stärkere Stellung haben und politische Initiativen des Senats blockieren können. Eine stadtweite Wohnungsbauoffensive zum Beispiel, wie Senat, Bezirke und Wohnungswirtschaft sie in Hamburg mit dem Bündnis für das Wohnen erfolgreich praktizieren, ist in Berlin viel schwerer durchzusetzen.“
Mehr Zentralität?
Also mehr Zentralität? „Mehr Zentralität macht aus meiner Sicht nur da Sinn, wo es vor Ort keinen Gestaltungsspielraum gibt, etwa bei der Ausstellung von Ausweisen“, sagt Dressel. „Aber überall dort, wo dieser Gestaltungsspielraum gegeben ist, wie bei Fragen der Stadtentwicklung oder der Aufstellung von Bebauungsplänen, da sollte er auch vor Ort bestehen bleiben.“
Aus Sicht von Michael Osterburg, seit vielen Jahren Fraktionschef der Grünen in der Bezirksversammlung Mitte, könnten die Bezirke dagegen noch eigenständiger werden. Ein „großes Problem“ sei zum Beispiel, dass sich Fachbehörden immer wieder in Belange einmischten, die eigentlich vor Ort geklärt werden können. So seien schon große Bauprojekte im Bezirk verzögert worden, weil die Verkehrsbehörde sich noch Gedanken über Abbiegespuren auf der Straße gemacht habe.
Massive Proteste
Auch die Ausweitung von Tempo-30-Zonen komme oft nicht voran, weil der Bezirk mitunter 1,5 Jahre auf eine Stellungnahme der „unteren Straßenverkehrsbehörde“ warte. Das ist in Hamburg übrigens die Polizei, und zwar nur in Hamburg. Osterburg hält das für einen Fehler und setzt sich seit Langem dafür ein, die Zuständigkeit für regionale Verkehrsthemen den Bezirken zu übertragen.
„Die Sichtweisen der Anwohner vor Ort müssen schneller über die Bezirke in die Senatspolitik einfließen“, meint auch Michael Kruse, FDP-Fraktionschef in der Bürgerschaft. Er nennt das Beispiel Busbeschleunigung: „An der Papenhuder Straße hat der Senat über die Köpfe der Bürger und der Bezirkspolitik hinweggeplant, anstatt die Signale aus dem Stadtteil zu erhören.“
Immerhin: Nach massiven Protesten aus dem Bezirk wurden die Pläne dann doch geändert. Das zeigt zweierlei: Der Senat darf in Hamburg zwar alles entscheiden. Aber die Bezirke sind de facto viel mächtiger, als die Verfassung es suggeriert.
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