Stadtgeschichte

Deutschlands ersten Fahrradclub gab es in Eimsbüttel

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Matthias Schmoock
Allzu komfortabel war das Eisen-Pferd von Schlüter vor 150 Jahren noch nicht.

Allzu komfortabel war das Eisen-Pferd von Schlüter vor 150 Jahren noch nicht.

Foto: Altona-Bicycle-Club (ABC) von 1869/80

Vor 150 Jahren versammelten sich 20 Velozipedisten zur Gründung. Regeln für das „Reiten“ der Stahlrösser muten kurios an.

Hamburg. Ein spektakuläres Ereignis trieb im Januar 1869 viele Hamburger auf die Straßen. Die Brüder August und Ernst Schlüter erreichten mit ihren Velozipeden („Schnellfüßen“) – man könnte sie auch Ur-Fahrräder nennen – aus Pinneberg kommend den Gänsemarkt und fuhren dann noch in einige angrenzende Gegenden weiter. Angeblich hatten sie für die Fahrt nur rund 75 Minuten gebraucht, was allerdings ausgeschlossen sein dürfte.

„Die erste größere Tour mit Velocipeden ward von den Herren Gebrüdern Schlüter in Pinneberg den Besitzern der Eisengießerei und Maschinenbauerei daselbst, ausgeführt“, schrieb eine Zeitung später. „Ueberall versammelten diese hier noch neuen Beförderungsmittel Zuschauer in großen Massen um sich.“ Und dann folgte eine Erläuterung zu dem, was man da im Vorbeifahren gesehen hatte: „Die Velocipeden sind sehr leicht und doch dauerhaft gebaut, und haben zwei hintereinander stehende Räder, zwischen denen man wie in einem Sattel sitzt.“

Schlaue Geschäftsleute

Die beiden Schlüters waren schlaue Geschäftsleute. Sie hatten in ihrer Firma selbst mit dem Bau von Velozipeden begonnen und wollten ihre Produkte nun werbewirksam bekannt machen. Dafür hatten sie sich gezielt die Nachbarstadt Hamburg ausgeguckt, die mit ihren rund 225.000 Einwohnern etliche potenzielle Kunden versprach.

Das neue Beförderungsmittel kam ursprünglich aus Frankreich, wo es schon kräftig produziert wurde. Zu Beginn der 1860er-Jahre hatten Technikfans einen neuen Antrieb ausgetüftelt: die Tretkurbel am Vorderrad der schon bestehenden „Laufmaschine“. Die Franzosen Ernest und Pierre Michaux und der zeitweise bei ihnen angestellte Arbeiter Pierre Lallement entwickelten separat voneinander solche „Frontkurbel-Velozipede“, die dann auf der Pariser Weltausstellung 1867 der Öffentlichkeit bekannt gemacht wurden. Schnell begannen auch Maschinenbauer in anderen Ländern damit, das Veloziped zu kopieren.

Pferde und alte Leute nicht erschrecken

Darunter befand sich auch die Pinneberger Eisengießerei Wilhelm Schlüter, die bereits zur Jahreswende 1869 praxistaugliche Gefährte anbot. Die Schlüters waren mit der Öffentlichkeitswirkung ihres Auftritts zufrieden, suchten aber nach weiteren Möglichkeiten, um für ihre Produkte zu werben. Schließlich entwickelten sie zusammen mit einigen Gleichgesinnten die Idee, einen Verein zu gründen. Zu ihren Mitstreitern gehörte unter anderen Harro Feddersen, einer der ersten Veloziped-Händler im Raum Altona.

Nach einigen Vorgesprächen wurde man sich einig: Vor 150 Jahren, am 17. April 1869, versammelten sich 20 „Velozipedisten“ im damals noch ganz ländlichen Eimsbüttel, um ihren Plan in die Tat umzusetzen. „In Eimsbüttel ist ein sogen. Velocipeden-Club gegründet, welcher im Local des Hrn. Sottorf daselbst seine Zusammenkünfte, Uebungen und, wo die Nothwendigkeit vorliegt, seine Bera­thungen über Neuerungen bei Velocipeden halten wird“, schrieb eine Zeitung am nächsten Tag.

Der genaue Name des Vereins lautete „Eimsbütteler Velocipeden-Reit-Club“, schließlich existierte das Wort Fahrrad noch nicht, und Velozipede wurden wie Pferde „geritten“. Von 1881 an hieß er dann offiziell „Altona-Bicycle-Club (ABC) von 1869/80“. Lars Amenda, heute Zweiter Vorsitzender des ABC von 1869/80, erläutert: „Angesichts der Rivalität zwischen Altona und Hamburg einigte man sich im Club als Kompromiss auf die ,neutrale Zone‘ Eimsbüttel, wo auch das Clublokal lag.“

1885 wurde Begriff Fahrrad offiziell verwendet

Zusammen mit seiner Satzung erließ der Club ein „Reitreglement“ mit genauen Vorschriften. Danach durften die „Reiter“ auf keinen Fall Unbeteiligte belästigen: „In der Nähe von Leuten darf daher nur langsam geritten werden, namentlich in der Nähe älterer Leute, Frauenzimmer und Kinder, und ist denselben stets so weit wie möglich auszuweichen“, heißt es in der Satzung.

Die Eimsbütteler Velo-Fans mussten nicht nur äußerste Rücksicht auf Menschen, sondern auch auf Pferde nehmen, die auf die neue Technik offenbar häufig ängstlich reagierten. Ein guter Velozipede-Reiter sollte die Tiere deshalb im Blick behalten: „Er muss dieselben daher schon aus möglichster Entfernung beobachten, ob dieselben zum Scheuwerden geneigt sind oder nicht. Er muss, sobald er Pferde, in deren Nähe er kommen wird, bemerkt, sofort langsam reiten; sieht er nun, dass ein Pferd die Ohren spitzt und unruhig wird, muss er so rasch wie möglich halten und absteigen, jedoch so, dass er jedes Geräusch und jede heftige Bewegung, namentlich ein Umfallen des Velocipéde vermeidet.“

Dazu bemerkt Lars Amenda: „Diese Sätze wirken aus heutiger Sicht höchst unterhaltsam. Aus den Regelungen sprach aber eine unbedingte Rücksichtnahme, um den neuen Sport in der öffentlichen Meinung nicht in Misskredit zu bringen.“

Die Begeisterung für das Veloziped wuchs in Hamburg Jahr für Jahr, und bald veranstaltete man in der Stadt Wettrennen, Kunstrad- oder Tourenfahrten und sogar Veloziped-Bälle. Der Siegeszug des immer schneller und preiswerter werdenden Fortbewegungsmittels war nicht mehr aufzuhalten. Das Wort Bicycle ersetzte man in den Radvereinen übrigens 1885 offiziell durch „Fahrrad“, ein Wort, das längst überall benutzt wurde. Beim Hamburger ABC von 1869/80 blieb es bis heute erhalten.

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