Hamburg. Vor 100 Jahren: Bürgerschaft wurde erstmals frei und unabhängig von Stand und Geschlecht gewählt. Doch die Umbruchzeit war schwierig.

Unter den Original-Akten der Bürgerschaft findet sich ein Zollformular der Dubliner Reederei Palgrave, Murphy Co – auf die Rückseite ist die offizielle Tagesordnung einer Sitzung gedruckt. Manche Anträge sind auf Speisekarten von Kriegsküchen geschrieben, andere auf kleine Streifen von Pergamentpapier. Doch nicht nur Papier war Mangelware. Eingaben von Bürgern verlangen, dass Arbeitslose die Gemüsegärten bewachen mögen. Der Bauernrat Glashütte möchte geringere Torfstech-gebühren. Die Witwe Falke wünscht die gestrichene Pension zurück. Der Wucher mit Möbeln möge unterbunden werden, verlangt ein anderer.

Es ist Frühling. Der erste seit fünf Jahren, in dem die Waffen des Weltkriegs schweigen. Doch Frieden herrscht in diesen Märztagen 1919 nicht. Nicht im Deutschen Reich, das gut vier Monate zuvor einen Waffenstillstand geschlossen hat – die neue Regierung der blutjungen Republik wartet jetzt darauf, endlich zum Friedenskongress nach Paris eingeladen zu werden. Nicht in Hamburg, wo die meisten Menschen hungrig aufwachen und hungrig zu Bett gehen. Der Hafen steht wegen der immer noch nicht aufgehobenen Seeblockade der Briten weitgehend still. Die Menschen warten auf Lebensmitteltransporte, auf Kohle, auf Schuhe, auf ein bisschen Normalität.