Berlin. Die Sucht nach Sex soll als psychische Störung anerkannt werden. Doch Gesundheitsexperten streiten, ob es die Krankheit überhaupt gibt.

Johannes Meister führte lange Zeit ein Doppelleben. Das sogenannte normale Leben, mit einer Frau, zwei Töchtern, einem Beruf. Das andere Leben war geprägt von seiner sexuellen Lust. Er konnte den Blick nicht von Frauen lassen, ging in Sexkinos und Peepshows.

Mehrmals täglich befriedigte er sich selbst, auch auf der Arbeit, um sich seines „Suchtdrucks zu entledigen“, wie er in einer E-Mail schreibt. Johannes Meister ist nicht sein richtiger Name. Der 67 Jahre alte Berliner möchte in dieser Geschichte nicht wiedererkannt werden.

Auch das Internet ist voll von Erzählungen wie der von Johannes Meister. Von Männern und Frauen, die davon berichten, dass die Lust ihr ganzes Leben bestimmt. Doch unter Experten gibt es noch immer Zweifel, ob es das gesteigerte Verlangen nach sexueller Befriedigung als eigenständiges Krankheitsbild überhaupt gibt oder ob es nicht eigentlich nur Symptom anderer Probleme ist.

WHO spricht von einer Impulskontrollstörung

Dennoch hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Sommer das sogenannte zwanghafte Sexualverhalten in ihren aktualisierten Katalog der Krankheiten ICD 11 aufgenommen. Dort gilt sie nun als eine Impulskontrollstörung, steht also noch nicht auf einer Stufe mit einer Sucht, wie etwa nach Alkohol oder Heroin, gilt jedoch als psychische Störung. Der Katalog soll im kommenden Mai beschlossen werden und 2022 in Kraft treten.

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Bislang gibt es nur Schätzungen, wie viele Menschen in Deutschland ein gesteigertes sexuelles Verlangen haben. Sie gehen von drei bis fünf Prozent Betroffenen aus. „Mir scheint die Zahl zu hoch“, sagt Professor Peer Briken, Direktor des Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE).

„Aber wir beobachten, dass die Zahl der Patienten, die sich mit einer Sexsucht bei einem Arzt oder Therapeuten vorstellen, größer geworden ist.“

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    Normales sexuelles Verhalten soll nicht pathologisiert werden

    Eine vor Kurzem im Fachblatt „Jama Network Open“ veröffentlichte Studie bestätigt diesen Eindruck zumindest für die USA. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass insgesamt 8,6 Prozent der Studienteilnehmer darunter leiden, dass sie ihr sexuelles Verlangen und Verhalten schlecht kontrollieren können – bislang waren Experten dort von einer Häufigkeit zwischen einem und sechs Prozent ausgegangen.

    Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern seien außerdem deutlich kleiner als bisher angenommen, schrieben die Forscher.

    Anders als die WHO und auch Deutschland haben sich die Vereinigten Staaten jedoch bislang dagegen entschieden, das unstillbare Verlangen nach dem sexuellen Höhepunkt, umgangssprachlich als Sexsucht bezeichnet, als Krankheit anzuerkennen.

    Experten befürchteten, normales sexuelles Verhalten könnte pathologisiert werden, also zu einer Krankheit gemacht werden. „Ich teile diese Sorge“, sagt Briken, der Teil einer Arbeitsgruppe ist, die die WHO berät.

    Keine Definition darüber, was „Normal“ ist

    Denn was normal sei und was nicht, sei mitunter schwer zu definieren. „Wenn sich jemand acht Stunden am Tag mit Sex befasst und ihm geht es gut dabei, dann gibt es kein Problem“, sagt auch der klinische Sexualpsychologe Dr. Christoph Ahlers.

    „Zum Problem wird es dann, wenn die Betroffenen und auch andere unter dem Verhalten leiden.“ Wenn die Menschen sich mehr sexuell betätigten, als sie es sich wünschen – in Gedanken und in der Realität.

    Wer warum ein zwanghaftes Sexualverhalten entwickelt, ist nicht ganz klar. „Es betrifft zwar eher Männer, aber eigentlich ist es ein Querschnitt durch die Gesellschaft, der sich Hilfe sucht“, sagt Briken.

    Auffallend sei, dass psychische Leiden wie Depressionen und Angststörungen bei den Betroffenen gehäuft vorkämen. „Deswegen geht es darum, die Funktion des Verhaltens zu erkennen“, sagt Ahlers und vergleicht es mit einer Alkoholabhängigkeit. Was es heißt, wenn der Partner an Depressionen erkrankt ist.

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      Wenig Rauschmittel erzeugen Gefühle wie ein sexueller Höhepunkt

      „Das Verhalten findet statt, um einen Zweck zu erfüllen: Schlechte Gefühle sollen weggehen, indem sie durch schöne Gefühle überlagert werden“, sagt der Leiter der Praxis für Paarberatung und Sexualtherapie am Institut für Sexualpsychologie in Berlin.

      Weil so aber die Ursachen der schlechten Gefühle nicht beseitigt werden, müssen diese immer wieder aufs Neue durch Stimulation überlagert werden.“ Mit Pornografie-Konsum, Masturbation, immer neuen Sexualpartnern. So entstehe das Suchthafte dieser sexuellen Betätigung.

      Ahlers, der sich in seinem aktuellen Buch „Himmel auf Erden und Hölle im Kopf – Was Sexualität für uns bedeutet“ auch mit gesteigertem sexuellen Verlangen befasst hat, sagt, im Grunde könne alles, was einen Reiz ausübe, Gegenstand einer suchthaften Betätigung werden: kaufen, spielen, rauchen, trinken.

      Beim Sex komme hinzu: „Kaum ein Rauschmittel kann die Gefühle bewirken, die ein sexueller Höhepunkt erzeugt – außer solche, die sehr abhängig machen“, sagt Ahlers. „Ein Orgasmus ist der potenteste Verstärker, den die Natur bereithält. Das Erregungsgefühl ist sehr stark, Botenstoffe werden ausgeschüttet. Und man braucht dazu nichts als seinen eigenen Körper.“

      „Früher waren es Sex-Hotlines, heute sind es Online-Pornos“

      Die Auswirkungen eines zwanghaften Sexualverhaltens auf das Leben der Betroffenen können gravierend sein. „Ein relativ großes Problem ist die Zeit“, sagt Briken. Die Menschen seien weite Teile des Tages damit befasst, pornografisches Material anzugucken, es zu sammeln, zu ordnen und immer neues zu beschaffen.

      „Damit ist eine absinkende Produktivität im Job verbunden, Müdigkeit, finanzielle Einbußen“, sagt der Sexualwissenschaftler. Auch Beziehungen leiden. „Betroffene haben zum Beispiel durch häufige Masturbation keine Lust mehr auf Sex mit dem Partner.“

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        Johannes Meister hat seiner Frau vor anderthalb Jahren nach 30 Jahren Ehe von seiner Sucht erzählt. Die Lust sei auch heute immer latent vorhanden, schreibt er. Er meide deswegen „animierende Situationen“.

        Keine großen Menschenmengen, wenig Fernsehen, wenig Internet. Gerade Letzteres birgt ein hohes Suchtpotenzial, sagt Christoph Ahlers: „Multimediale Internet-Pornografie hat ein außergewöhnliches Stimulationspotenzial. Überexplizite Tonfilme entfalten eine Stimulationsstärke, die in einer realen sexuellen Begegnung unmöglich ist.“

        Die Zahl der Sexsüchtigen muss sich nach Meinung der Experten dadurch nicht zwangsläufig erhöht haben. „Früher waren es Sex-Hotlines, heute sind es Online-Pornos“, sagt Briken.

        Verstehen, dass das Verhalten einen Zweck erfüllt

        Behandelt wird ein gesteigertes sexuelles Verlangen mit einer Psychotherapie, manchmal unterstützt durch die Einnahme von Medikamenten. „Wichtig ist zunächst, dass die Betroffenen ein Problembewusstsein haben und sich fragen: In welchen Situationen kommt die Lust auf?“, sagt Briken.

        Johannes Meister hat sich nicht therapieren lassen. Disziplin und sein Glaube an Gott hätten ihm geholfen, seine Sexualität zu verändern und mit ihr zu leben. Sexualpsychologe Ahlers hält nicht viel von reiner Disziplin.

        „Solange man nicht versteht, dass das Verhalten den Zweck erfüllt, schlechte Gefühle zu überdecken und man dumpf auf Impulskontrolle setzt, greift jede Therapie zu kurz“, sagt der Sexualtherapeut. „Die antidepressive Funktion der Verhaltensweise wird dann außer Acht gelassen.“

        Sexuelle Reizbarkeit sei nicht die Ursache des Problems – exzessive sexuelle Betätigung sei nur ein Symptom.