Neues Buch

„Wandern ist Widerstand gegen den Wahnsinn unserer Zeit“

| Lesedauer: 13 Minuten
Uli Hauser, Autor des Buches „Geht doch“, läuft auch im Alltag, hier am Altonaer Balkon

Uli Hauser, Autor des Buches „Geht doch“, läuft auch im Alltag, hier am Altonaer Balkon

Foto: Klaus Bodig / HA

Uli Hauser ist rund 1500 Kilometer nach Rom gelaufen. Der Wander-Prediger hat daraus ein faszinierendes Buch gemacht.

Hamburg. Mit Wanderbüchern lassen sich inzwischen Bibliotheken füllen. Seitdem Hape Kerkeling mal weg war, bannen viele Literaten ihre schönsten Wandererlebnisse zwischen zwei Buchdeckel. Da drohte auch Uli Hausers Buch im laufenden Meter der Buchhandlungen unterzugehen. Aber „Geht doch!“ sticht aus der Masse hervor – der Journalist verbindet Wissenschaft und Weisheiten über das Wandern mit Reise-Impressionen eines wanderbaren Deutschlands. Manche Erlebnisse sind gänsehautschön.

Am Anfang stand die Idee. Im vergangenen Jahr feierte der 56-Jährige Eimsbütteler sein Betriebsjubiläum beim „Stern“ – Anlass für ihn, sich nach 25 Jahren am Baumwall einen Ausstieg auf Zeit zu gönnen. „Das Gehalt um die Hälfte runter, aber mehr Zeit als Geld“, fasst er es zusammen. Dreieinhalb Monate, um nach Rom zu laufen. „Ich bin schon als Kind immer herumgestromert und fahre noch heute ziellos mit dem Fahrrad durch die Stadt“, erzählt Hauser. Er steht in Sandalen auf dem Altonaer Balkon, im Gehen erzählt er von „Geht doch“ und der Entstehungsgeschichte des Buches.

Es lockte das Abenteuer

Den Gelegenheitswanderer, der bis dahin eher kürzere Strecken in den Mittelgebirgen und den Alpen zurückgelegt hatte, lockte das Abenteuer. „Ich wollte ein bisschen wie im Song ,Ich war noch niemals in New York‘ dem Alltag entfliehen und ohne großes Gepäck weg“, sagt er. „Ich hatte die Schnauze voll vom ganzen Sitzen, vom Leben im Büro, in dem die Rollläden heruntergehen, sobald die Sonne herauskommt.“

Aus grauer Städte Mauern. Am Anfang schummelt Hauser ein wenig – statt stundenlang durch Gewerbegebiete im Süden Hamburgs zu laufen, setzt er sich in den Zug und wandert erst in Lüneburg los. Er will sich nichts beweisen, sondern genießen. So wird er es auf den rund 2000 Kilometern in die Ewige Stadt immer wieder halten. Er weiß nicht, wie viele Kilometer er am Ende tatsächlich gewandert ist. „Ich schätze 1500 Kilometer“, sagt er heute. Aber es geht ihm nicht um Zahlen.

Genauer Beobachter

Hauser ist ein genauer Beobachter und poetischer Erzähler zugleich. Durch die Göhrde und das Wendland führt ihn der Weg über Braunschweig gen Süden. Er fühlt sich im Wald wie ein „Laub-Bube“, tiefenentspannt und glücklich. „Heiter war der Tag und wild die Welt. Ich fühlte mich frei“, heißt es im Buch. Zugleich entwickelt er einen kritischeren Blick auf unser durchtechnisiertes Leben. Sein Auto? „Zu viel Touchscreen, too much information: mit jedem Modell fünf Minuten früher im Stau“; er will nicht länger ein Mensch sein, der Handys spazieren führt.

Nicht ohne Melancholie vergleicht er das trubelige Dorfleben seiner Kindheit mit der Tristesse, die er durchwandert. „Wo war all das Leben hin? Was machen die Leute mit ihrer Zeit? Ist da nur Arbeit? Auto und Pendeln und abends noch mal schnell zu Aldi, Penny, Lidl? Begegnet man sich dort?“, fragt er in seinem Buch. Was haben wir für den Fortschritt geopfert. Ja, ist das denn überhaupt Fortschritt?

Laufen macht den Kopf frei

Er streunt durch ein Land, das anders ist als vermutet, grüner, leerer, facettenreicher. „Es war viel einsamer, als ich erwartet hatte“, sagt er. Dem Wanderer schenkt das Ruhe, das Land leidet im 21. Jahrhundert unter akuter Strukturschwäche. „Die Leute sind weg, die Dörfer bluten aus. Es fehlen die Läden und die Gasthöfe.“ Das macht eine solche Tour nicht leichter. In vielen Regionen ist der Fernwanderer ein Exot. „Wir haben unser Leben bequem organisiert, wir sind gar nicht mehr gewöhnt, unsere Beine groß zu benutzen. Wenn ich nach dem Weg gefragt habe, war die Antwort oft, das sei viel zu weit“, erzählt er.

Hauser ist nicht nur ein Wandervogel, der 100 Jahre zu spät kommt. Neben der Waldromantik und der heiteren Melancholie liefert er Fakten: Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems sind längst Volkskrankheit geworden, noch vor Erkältungen und Depressionen. Ein Fünftel aller Patienten, zitiert Hauser Schätzungen, verursachten den Kassen vier Fünftel der Kosten. „Viele lassen sich lieber ihr Knie austauschen, als dass die ihren Lebensstil hinterfragen“, ätzt er.

„Wandern ist Widerstand gegen den Wahnsinn unserer Zeit“, fasst es Hauser zusammen. Jeder Wanderer weiß: Laufen macht den Kopf frei – und Platz für neue Gedanken. Er geht und es geht um Gott und die Welt. Manchen Geistesblitz des Autors denkt man fasziniert weiter, bei manchen schüttelt man den Kopf.

Nach einem Drittel des Buches ist der Leser erst im Harz angekommen. Hauser beschreibt die ersten 200 Kilometer seines Wagnisses detaillierter, Richtung Rom rafft er. Bei seiner Gehgeschwindigkeit ist es genau andersherum. „Anfänglich war ich fünf Stundenkilometer schnell, am Ende nur noch drei bis 3,5 Kilometer. Da bin ich geschlendert.“

Hauser versenkt sich in Waldeseinsamkeit

Er drosselt nicht nur die Geschwindigkeit, sondern auch die Wahrnehmung der Welt. Journalisten gelten als Nachrichtenjunkies, auch hier heilt das Gehen: „Anfangs hatte ich mich noch über die Nachrichten informiert, dann immer weniger. Ich habe mich gefragt, was hat der Trump mit dir zu tun?“, erzählt Hauser, während wir an der Elbe entlangschlendern. „Man wandert in eine Stimmung hinein, die den Moment wichtig macht.“

Durch das Werratal schreitet Hauser weiter, durch das deutsche Herz, entlang der innerdeutschen Grenze. „Bist du zu Fuß unterwegs, siehst du den Gang der Geschichte anders. Von unten eben. Ein Fußvolk, bevor wir uns auf Rollen und Reifen fortbewegten“, schreibt er. Hauser liest in alten Büchern, entdeckt vergessene Worte, die es neu zu verstehen gilt. „Lufthunger“ etwa oder „Zeitgeiz“. Er kramt aus dem Langzeitgedächtnis alte Fahrtenlieder hervor, die er einst als Jugendlicher am Lagerfeuer gesungen hatte. „Ich habe oft gesungen, da kamen auch alte Lieder wieder. Es war so entspannend, allein durch den Wald zu laufen, den Wind zu spüren und zu singen. Man sollte jeden Tag so verbringen, als wäre er das ganze Leben“, sagt er heute.

Uli Hauser versenkt sich in Waldeseinsamkeit. Stille von Zeit zu Zeit, das wusste schon Fjodor Dostojewski, sei für den Menschen wichtiger als Essen und Trinken. Und gesund ist es auch: „Wald und Flur wurden zu einem Fitnessstudio, ziemlich großzügig, die Ausstattung.“

Erstaunliche Entdeckung

In Eisenach besucht er einen Schuhmacher, Hauser faszinieren Füße und Schuhe – die, die ihn tragen, vertragen besondere Aufmerksamkeit. Der Schuhmacher verpasst ihm Einlagen. Die Probleme kommen doch, hinter Bamberg wird aus dem Wandern ein Humpeln. Das Wandern wird zur Qual, das rechte Bein schwillt an, jede Bewegung schmerzt, der Körper ist überfordert. In diesen Stunden und Tagen denkt Hauser ans Aufgeben. In Landshut muss er haltmachen, er sucht Ärzte auf, legt sich neues Material zu, pausiert zehn Tage.

In München trifft er weitere Experten, besucht einen Hersteller von Wanderschuhen. Geht es weiter? Er wagt den Neustart – geht mit Demut auf die weitere Reise, wird zum Pilger. Im Wald trifft er den Benediktinermönch Jakobus, erzählt ihm von seiner Vermutung, ein gläubigerer Mensch zu sein, als er dachte. „Das kann noch wachsen“, entgegnet der Mönche. „Je mehr du in die Stille hineinkommst, immer weiter, immer tiefer.“ Wandern eröffnet Horizonte.

Erst auf den letzten Seiten verlässt der Leser mit Hauser deutsche Lande. Er überquert die Alpen abseits der großen Touristenströme und wandert über den Septimerpass, der in der Antike mit seinen gut 2300 Metern als einer der wichtigsten Alpenübergänge galt. Der rauen Bergwelt folgt bald ein liebliches Oberitalien. „Eine der erstaunlichsten Entdeckungen auf meiner Tour war, wie sich durch das Gehen Gedanken lösten. Abfielen von mir und aus dem Kopf purzelten, mühelos und ohne Anstrengung.“ Die Reise durch Italien schrumpft als Bericht auf wenige Seiten. „Am Ende wollte ich Ruhe haben vor mir selbst“, erklärt Hauser. Der Leser wird es ihm verzeihen.

„Zehen wollen etwas von der Welt sehen“

In Rom gelingt es ihm als Pilger bei der Generalaudienz in der ersten Reihe zu sitzen und den Papst direkt zu treffen. Der Mann, der sich nach Franziskus von Assisi benannt hat, der einstmals sagte: „Versuche das Nötige. Dann tu, was dir möglich ist. Plötzlich schaffst du das Unmögliche.“ Zum Beispiel zu Fuß von Hamburg nach Rom zu laufen.

Die Reise hat den Journalisten verändert. „Das war viel entspannter als jeder Urlaub. Wenn es dir gefällt, bleibst du – sonst ziehst du weiter. Es muss nicht alles perfekt sein.“ Es ändert den Blick auf Zeit – und auf die Welt. „Wenn Leute sagen, die Welt ist schlecht, sage ich: Die Welt ist gut.“ Er hat ein Land gesehen, dass er anders erwartet hatte - und viele freundliche Menschen. Er hat viel Hilfsbereitschaft erlebt – Menschen zum Beispiel, die umgekehrt sind, um ihn mitzunehmen oder ihn eingeladen haben.

Auch ein anderes Körpergefühl stellte sich ein. Nach der Tour wog er mit Rucksack so viel wie beim Start ohne Gepäck. „Man schläft viel und gut, ein sattes Gefühl von Zufriedenheit durchströmt den Körper“, erzählt Hauser im Rückblick. „Man entwickelt eine ganz andere Beziehung zum Fuß. Früher habe ich die nicht beachtet, heute glaube ich, dass die Chinesen recht haben: Die Füße sind das zweite Herz.“ So oft es geht, zieht er die Schuhe aus oder schlüpft in Sandalen – so wie heute auf dem Weg ins Büro am Baumwall. „Sandalen sind großartig – damit kann man Hunderte Kilometer gehen. Die Zehen wollen auch etwas von der Welt sehen.“

Zauber des Gehens

Und er ist ein Wander-Prediger geworden, der den Zauber des Gehens vermitteln möchte. Mir rät er, es einmal mit Rückwärtsgehen zu versuchen. Dann soll ich mir die Ohren zuhalten – und vorwärtsschreiten. Mitten auf den Landungsbrücken, Höhe Brücke 6, ein bestechender Selbstversuch: Man spürt, welche Gewichte auf den Füßen lasten.

Wandern ist die einfachste aller Bewegungen, jeder kann einfach loslaufen. „Wir verpassen furchtbar viel in der Stadt, beispielsweise den ganz besondern Duft des Herbstes. Und der Beton tut den Füßen furchtbar weh – wie schön ist es dagegen, barfuß durch nasse Wiesen zu laufen.“ Dafür müsse man die Stadt nicht einmal verlassen, sagt Hauser. „Das geht auch an der Alster. Gerade Hamburg hat viele Refugien, viel Wasser, viel Grün.“ Auch im Umfeld der Hansestadt lohnt das Wandern, sagt Hauser. Und verrät, wo es ihm besonders gut gefallen hat. Es gebe viele tolle Wege von Hamburg an die Ostsee, die Wanderungen durch das Wendland waren „großartig“. Besonders empfehlen kann er auch die Rhön und der Werra-Burgensteig in Hessen. „Es gibt schon viele schöne Gegenden in Deutschland.“

Hausers Buch erscheint nun in dritter Auflage. Und viele Leser hat er mit dem Wandervirus infiziert. Das geht nicht immer ohne Blessuren: Eine Leserin, so erzählt Hauser, habe nun Stress mit ihrem Mann, weil der nur noch barfuß läuft. Eine andere Leserin schenkte das Buch ihrem Mann – die Lektüre hat ihn begeistert. Das kleine Problem: Er möchte jetzt alleine los.

Das Buch schürt die Wanderlust. „Traut Euch. Nicht immer wegfahren. Weggehen. Den Körper frei bekommen, und nicht nur den Kopf.“

Geht doch!

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