Hamburg. Archive sollen Informationen zeitlich unbegrenzt aufbewahren und benutzbar machen. Dass eine solche Institution, konkret das Staatsarchiv Hamburg, Dokumente vernichtet, ist das Gegenteil davon. Doch in der Wandsbeker Verwaltungsstelle ist genau das passiert – ein Vorgang, der für reichlich Ärger und Bestürzung sorgt. Betroffen sind die Todesbescheinigungen von mehr als einer Million Hamburgern aus den Jahren 1876 bis 1953. Diese handbeschriebenen DIN-A6-Blätter, auf denen der jeweilige Arzt den Todesfall inklusive Ursache bescheinigt und unterschrieben hat, galten Historikern und Wissenschaftlern als wichtige Quelle – vor allem für Todesfälle in der NS-Zeit.
„Ich bin entsetzt über diese geschichtslose Vernichtung, der Bestand war eine biografische Quelle ersten Ranges“, sagte Rainer Nicolaysen, Vorsitzender des Vereins für Hamburgische Geschichte, dem Abendblatt. „Es geht gegen alle Regeln für Archive, etwas zu vernichten, mit dem andauernd gearbeitet wurde.“ So seien viele Informationen unwiederbringlich verloren, wie die Namen der Ärzte, ein zentraler Bestandteil der Täterforschung in der NS-Zeit. Auch Angaben zu den Todesursachen vor 1938, bevor diese auch im Sterberegister eingetragen wurden, gebe es nun nicht mehr.
Kritik kommt auch von der Stolpersteininitiative
Ob ein Verstorbener also beispielsweise Opfer der Choleraepidemie wurde oder aus anderen Gründen starb, könne man nun nicht mehr nachvollziehen. Andere Daten könne man zwar aus weiteren Quellen recherchieren, das sei aber aufwendig und zum Teil kompliziert. „Zudem ist der Bestand in unzähligen Veröffentlichungen als Quelle genannt worden – diese Belege sind nun wertlos“, so Nicolaysen. „Es ist das Gedächtnis der Stadt Hamburg, das hier beschädigt wurde.“
Auch andere Betroffene, wie die Stolpersteininitiative oder Philipp Osten, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am UKE, äußerten scharfe Kritik. „Die Akten waren für uns eine wichtige Quelle für die Gesundheitsgeschichte Hamburgs“, sagte Osten. „Über die Vernichtung habe ich mich sehr geärgert.“
Kassation war ein „absolut ärgerlicher Fehler“
Die zuständige Kulturbehörde räumt mittlerweile ein, dass die sogenannte Kassation ein „absolut ärgerlicher Fehler“ gewesen sei. „Auch wenn die meisten Informationen in anderen Quellen des Staatsarchivs ermittelt werden können, würde das Staatsarchiv heute nicht wieder so verfahren“, sagte Sprecher Enno Isermann.
Doch warum wurden die Akten überhaupt geschreddert? Schuld war die Verpackung der Dokumente. Weil diese auseinanderfiel und aus „konservatorischen Gründen“ hätte ersetzt werden müssen, habe man sich die Unterlagen, die seit den 60er-Jahren im Staatsarchiv lagern, genauer angesehen. „Dabei sind wir darüber gestolpert, dass der Bestand bei der Übernahme nicht als archivwürdig eingestuft wurde“, sagte der Leiter des Staatsarchivs, Udo Schäfer, dem Abendblatt. „Darum haben wir nun geprüft, ob sich diese Einschätzung geändert hat – das war nicht der Fall.“
Warnung vor Vernichtung wurde falsch kommuniziert
Schließlich habe man das Sterberegister sowie Strafverfahrens-, Gefangenen- und Patientenakten aus der NS-Zeit ins Staatsarchiv übernommen, die nicht nur die nötigen Informationen enthielten, sondern auch Aufschluss über die Zusammenhänge geben würden. „Ein Arzt, der eine Todesbescheinigung unterzeichnet, ist nicht zwangsläufig der Täter“, so Schäfer. Hier müsse man ohnehin auf die im Staatsarchiv noch vorhandenen Akten zurückgreifen. „So haben wir zumindest gedacht“, erklärt Schäfer. „Nicht hinreichend bedacht haben wir, dass die Todesbescheinigungen in den letzten Jahren genutzt wurden.“
Und das war nicht der einzige Fehler: So wurde eine externe Warnung vor der Vernichtung laut Behörde durch einen „extrem ärgerlichen Verfahrensfehler“ intern nicht richtig kommuniziert.
Extern Prüfung der Abläufe im Staatsarchiv gefordert
Behörde und Staatsarchiv kündigten nun Konsequenzen an: So solle vor einer Vernichtung, die im Übrigen sehr selten vorkomme, immer geprüft werden, ob der Bestand genutzt wird oder wurde und mit diesen Nutzern gesprochen werden. Zudem werde man Veränderungen der Bestände im Internet und am Schwarzen Brett des Lesesaals ankündigen.
Dringenden Handlungsbedarf sieht auch der kulturpolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Dietrich Wersich. Durch die Maßnahmen müsse man Sicherheit für die Zukunft schaffen. Seine Fachkollegin von der SPD, Isabella Vértes-Schütter, kündigte an, „die Problematik auf jeden Fall im Blick“ zu behalten.
Doch nicht allen gehen die Maßnahmen weit genug. Rainer Nicolaysen fordert eine externe Überprüfung der Abläufe im Staatsarchiv. Und UKE-Institutsdirektor Osten lobte die Reaktion zwar ausdrücklich, sieht jedoch noch ein grundsätzliches Problem: „Das Staatsarchiv sollte nicht nur verwalten, sondern selbst forschen – dann wäre so etwas nicht passiert.“
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