Johannesburg. Vier Tänzerinnen und vier Tänzer verrenken und dehnen sich auf dem Boden. Warm-up für eine erste Präsentation. Normalerweise spreizen in diesem einladenden Raum mit hoher Fensterfront im Zentrum Johannesburgs die Mitglieder des Joburg Balletts ihre Glieder. Für fünf Wochen ist es das Zuhause der Hamburger Choreografin Jessica Nupen und ihres Teams. Der Titel ihrer Tanzperformance, die vom 17. bis 21. Januar auf Kampnagel Uraufführung feiert, könnte nicht besser zu der südafrikanischen Metropole passen: „Don’t Trust The Border“ (Trau der Grenze nicht).
Die Hamburger Tänzerin Angela Kecinski, die mit Nupen nach Johannesburg gereist ist, rafft in einer Ecke Plastiktüten zusammen, als würde sie sich für einen Ernstfall wappnen. Später stößt das Ensemble auf eine ganz reale Grenze, die ein langgezogenes Band setzt. Symbol für Barrieren zwischen Geschlechtern, Rassen, Kontinenten, Alt und Jung, Reich und Arm. Um solche Grenzen geht es und um solche in Kopf und Herz. Überall stehen Menschen plötzlich vor einem „Hier geht es nicht weiter“, müssen reagieren, verhandeln, sich neu sortieren.
Ihre Kindheit in Johannesburg hat Jessica Nupen geprägt
„Es ist eine Reise. Eine Suche. Wie sehen wir uns selbst und andere?“, sagt Jessica Nupen fröhlich. Die Choreografin ist hellwach an diesem heißen Probentag. Ihr Selbstbewusstsein offenbart sich auch in ihrer Vorliebe für leuchtende Farben. „Johannesburg ist ein so extremer Ort in einer geteilten Nation. Weil ich das Privileg habe, Afrika und Europa zu kennen, wollte ich mit Tänzern aus Hamburg und Johannesburg arbeiten. Wir schauen auf die Grenzen, aber auch auf die Menschlichkeit. Auf Vertrauen und Offenheit. Das Stück handelt vom Verstehen des anderen.“ Für die 31-Jährige erhält das Thema seine Dringlichkeit aus dem aktuellen Weltgeschehen – und aus ihrer eigenen Biografie.
Nupen selbst wuchs als Weiße in Johannesburg während der brutalen Unterdrückung der schwarzen Mehrheit durch die weiße Minderheit auf und hat feine Antennen für jede Form von Ausgrenzung und Unrecht. Geschärft auch durch das politische Engagement ihrer Eltern, die in der Anti-Apartheid-Bewegung aktiv waren. Ihr Vater etwa hatte als Anwalt den inhaftierten Bürgerrechtler Steve Biko beraten.
Zwei Jahre Vorarbeiten für das neue Stück liegen nun hinter Jessica Nupen. Mit ihrer zupackenden, verbindlichen Art überzeugte sie etliche Sponsoren und so kommt es, dass die deutsch-südafrikanische Truppe sowohl in Hamburg als auch in Johannesburg probt. Was hier gerade entsteht, ist dynamisches, sehr energetisches Tanztheater mit vielen kraftvollen, spielerischen Elementen. „Es geht um den Willen, Grenzen einzureißen. Um Stigmata und Stereotypen. Wenn jemand einen Zaun als Grenze wahrnimmt, glaubt es auch der Nächste. Das gibt der Grenze ihre Macht“, so Jessica Nupen.
Während die Tänzerinnen und Tänzer sich im Gruppengespräch nach der Vorführung gegenseitig die strapazierten Füße kneten, nimmt Dramaturg Phala Ookeditse Phala ganz selbstverständlich die Namen des Dramatikers Bertolt Brecht und der Tanzpionierin Pina Bausch in den Mund. Das Geschehen auf der Bühne soll offengelegt, das dem Körper innewohnende Wissen sichtbar gemacht werden.
Das Südafrika nach der Apartheid hat neue Probleme
Jessica Nupen tanzt in einigen Szenen selbst mit, meist gibt sie Ansagen vom Bühnenrand aus. „Du bist ein Kämpfer, also kämpfe“, sagt sie zu einem Performer. Zwei Tänzer sind zu nett miteinander. „Ihr seid keine Freunde“, sagt Jessica Nupen. Die Kompanie aus gelernten Balletttänzern und spielstarken Performern probt täglich acht Stunden intensiv. Nupen selbst knabbert in der Mittagspause nur ein paar Nüsse und schnappt ein wenig Luft jenseits des Studios, dessen Pforte so streng bewacht wird, dass sie manchmal auch die aussperrt, die hier gebraucht werden. Mit großer Selbstverständlichkeit bewegt sich Nupen in einem Straßenbild, in dem sich kaum Weiße finden. Verscheucht unerschrocken am Abend auf dem Weg zur hippen Bar The Living Room auch schon mal ein paar offenbar von Drogen berauschte Parkeinweiser.
Johannesburg ist, wie das ganze Land, auch in der Post-Apartheid-Ära geprägt von extremen ökonomischen Gegensätzen. Die weiße Minderheit schottet sich hinter hohen Mauern in den Vororten ab, die schwarze Mehrheit hat sich die lange verlorene Innenstadt langsam zurückerobert. Es gibt Freiheit und Demokratie. Aber auch zu viel Korruption und zu wenig Arbeit. Und so beherrschen unterschwellige Ängste, die auch in das Stück einfließen, das alltägliche Leben. Als Besucher spürt man das sofort. Auch auf dem Weg zum Tanzstudio ist das sichere Auto als Fortbewegungsmittel die erste Wahl.
Die Tänzerinnen rühmen die Freundlichkeit der Menschen
Die deutschen Tänzerinnen Olivia Papoli Barawati aus Osnabrück und Angela Kecinski aus Hamburg sind bei Familie Nupen im Norden der Stadt untergekommen. Nach und nach haben sie Johannesburg, das New York Afrikas, für sich entdeckt. „Das ist eine tolle, einmalige Erfahrung“, sagt Angela Kecinski über die Proben. „Auch wenn wir uns daran gewöhnen mussten, nicht einfach spazieren gehen zu können. Aber ich habe die Südafrikaner als sehr offen und warmherzig kennengelernt.“ Gewöhnen musste sie sich auch an die ausgeprägte Bewegungsenergie ihrer vom Afro-Fusion-Tanz geprägten Kollegen. Umgekehrt haben die südafrikanischen Tänzer bei den Proben im Hamburger Quartier in Winterhude fast einen Kulturschock erlitten. In Johannesburg schlagen sie sich teilweise mehr als eine Stunde lang in waghalsig fahrenden Minibussen aus Soweto – früher ein Township, heute ein lebenswerter, grüner Vorort – zum Tanzstudio durch.
Das Studio liegt im Stadtteil Braamfontein, der wie die ehemalige Industriemeile Maboneng derzeit zart aufblüht. Erst kamen hier die Künstler, gründeten Ateliers und Galerien, dann entstanden Restaurants, Läden und Cafés mit farbigen Hauswänden. Das junge Johannesburg ist vital, selbst- und trendbewusst. Wenige Straßen weiter stehen besetzte Häuser, gesetzlose urbane Slums, die es zu meiden gilt. Sie zeigen nicht nur Touristen, die meist nur auf der Durchreise nach Kapstadt oder zu einer Safari Station machen, eine Grenze auf, sondern sind selbst ein Symbol von Ausgrenzung. „Hier leben viele Immigranten aus anderen afrikanischen Ländern ohne Papiere und ohne Möglichkeiten“, erklärt Jessica Nupen. „Viele Südafrikaner wollen, dass sie das Land wieder verlassen.“
Im angesagten Maboneng hat Nupens Patenonkel und Mentor, Südafrikas bekanntester Künstler William Kentridge, das Kulturzentrum Arts on Main gegründet, das mit seinem lässigen Charme Besucher aus aller Welt anlockt. In seinem Studio zeichnet und entwirft er Operninszenierungen für Häuser in London oder New York. „Johannesburg ist sein Material und sein Vokabular“, lacht Jessica Nupen. Nie würde er hier wegziehen. Er ist ihr ein wichtiger Förderer – und kritischer Begleiter.
Jessica Nupen nennt Eimsbüttel ihr Zuhause
Sie selbst ist inzwischen in Hamburg heimisch. Ihren südafrikanischen Pass hat sie abgegeben. Das Gefühl, vor verschlossener Tür zu stehen, kennt sie allzu gut. Aufhalten lässt sie sich davon nicht. „Ich bin eine unverbesserliche Optimistin“, sagt sie und lacht. „Ich war nicht an Grenzen gewöhnt. Das ist meine Natur.“ Als Absolventin der Londoner Rambert School of Ballet and Contemporary Dance tanzte sie zunächst in Stadttheatern, bevor sie mit eigenen Choreografien wie „Romeo & Juliet. Rebellion in Johannesburg“ und „The Lions“ in Hamburg Erfolg hatte und auch dem Tanz in Hamburg ein neues Publikum erschloss.
In Europa fühle sie sich frei in ihrer Arbeit, sagt Nupen, die Eimsbüttel ihr Zuhause nennt. Das Leben in der weißen Community Johannesburgs ist eher konservativ geprägt. Man bleibt unter sich und besucht die Shopping-Mall und den Country-Club. Das ist nichts für eine künstlerische Grenzenausloterin wie Jessica Nupen.
Die Sonne Südafrikas wird sie schon bald wieder gegen den Hamburger Winter eintauschen.
Jessica Nupen: „Don’t Trust the Border“ 17.1. bis 21.1., jew. 20.00, Kampnagel (Bus 172, 173), Jarrestraße 20, Karten 18,-/erm. 9,- unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de Die Reise nach Johannesburg wurde ermöglicht durch Kampnagel
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