Am Sonntag vor 20 Jahren verloren die Hamburger Hockeybrüder Moritz und Jonas Fürste ihren Vater Peter beim Untergang der Fähre „Estonia“. Mit Björn Jensen sprachen ihre Mutter Nicola und sie erstmals gemeinsam über das Unglück und seine Auswirkungen

Als Nicola Fürste am Vormittag des 28. September 1994 von ihrem Yogakurs nach Hause kam, ahnte sie nicht, dass ihr Leben ein völlig anderes werden würde. Aber sie sah das Auto, das am Straßenrand vor ihrem Haus in Lemsahl-Mellingstedt parkte, und sie spürte, dass etwas passiert sein musste. Sie erkannte am Nummernschild, dass es Mitarbeiter der Firma United Distillers waren, in der ihr Mann Peter, 37, als Leiter der Abteilung Duty Free beschäftigt war. Dem Wagen entstiegen sein Chef und eine Sekretärin, und die Nachricht, die sie überbrachten, zog der damals 35-Jährigen den Boden unter den Füßen weg. Peter, den sie zehn Jahre zuvor geheiratet hatte, sei auf einer Geschäftsreise mit der Ostseefähre „Estonia“ in schwerem Sturm untergegangen (siehe Infokasten). Über sein Schicksal könne man noch nichts Endgültiges sagen, man müsse aber vom Schlimmsten ausgehen.

Die gelassene Sachlichkeit, mit der die 55-Jährige, die in Meiendorf im Hort einer Grundschule arbeitet, heute von ihrem Schicksal erzählen kann, ist beeindruckend. Sie tut es in der Öffentlichkeit zum ersten Mal, ebenso wie ihre beiden Söhne Moritz, 29, und Jonas, 27, die in Hamburg als Hockey-Bundesligaspieler des Uhlenhorster HC bekannt sind. Moritz war 2008 und 2012 Olympiasieger und 2012 sogar Welthockeyspieler des Jahres, und natürlich haben er und Jonas über die Jahre sehr viele Anfragen erhalten, ob sie über ihre Familientragödie berichten würden. Immer haben sie abgelehnt, auch und vielleicht vor allem, weil die Mutter keinen Sinn darin erkannte, ihr Privatleben in der Öffentlichkeit auszubreiten. Aber jetzt, da sich an diesem Sonntag Peter Fürstes Tod zum 20. Mal jährt, sind sie bereit gewesen für dieses eine Gespräch. Es ist das erste, das sie gemeinsam führen über das schreckliche Unglück. Sie sehen es als eine Art Schlussstrich an; nicht unter das Gedenken an den Vater, das wird ewig anhalten. Aber unter die vielen Fragen, die ihnen gestellt werden, auch heute noch.

Und natürlich gibt es unendlich viele Fragen, die man stellen möchte. Zum Beispiel diese: Wie bringt man seinen Kindern bei, dass der geliebte Papa, der beim Uhlenhorster HC erst Mitglied und später Teammanager der ersten Herrenmannschaft war und seine Jungs zum Hockeyspielen animiert hatte, nicht mehr wiederkommen wird? Nicola Fürste weiß noch, dass sie darüber sehr viel nachdachte – und dann doch aus dem Bauch heraus handelte. Sie hatte die Jungs, die in der Schule waren, als sie die schreckliche Nachricht erhielt, in der ersten Nacht bei deren Freund unterbringen können, um sich zu sammeln. Der Chef ihres Mannes hatte ihr geraten, sich Hilfe zu holen, und diese Hilfe kam in einer Fülle, die sie überwältigte. „Ich bin von meinen engsten Freunden aufgefangen worden, hätte Tag und Nacht anrufen können“, erinnert sie sich. Eine Freundin, alleinerziehend, brachte ihre beiden Kinder kurzerhand bei ihrem Bruder unter und zog für drei Wochen bei den Fürstes ein. Nicolas Mutter, die drei Wochen zuvor ihren Mann verloren hatte, versuchte trotz ihrer eigenen Trauer zu helfen.

Die Nachricht des Todes war für die Brüder zu abstrakt, um sie zu begreifen

Und doch war das Gespräch, das sie führen musste am nächsten Tag, als die Jungs aus der Schule nach Hause kamen, vielleicht der schwerste Moment ihres Lebens. „Man kann ja selbst keine klaren Gedanken fassen. Obwohl ich viel darüber nachgedacht hatte, habe ich letztlich versucht, ihnen einfach zu erklären, was passiert war“, sagt sie. Die Brüder nahmen es hin, sie weinten mit der Mutter und spürten die bedrückende Trauer, dennoch war es zu abstrakt für sie, sich die Konsequenzen auszumalen. Sie riefen danach den Freund an, bei dem sie übernachtet hatten. Er kam, sie erzählten ihm, was passiert war. Und dann versuchten sie, sich mit Fußballspielen abzulenken. Nicola Fürste hörte nur noch das Klatschen des Balls an der Kellerwand.

An den Wortlaut des Gesprächs erinnert sich naturgemäß keiner der drei. In Jonas’ Gehirn hat sich allerdings das Bild eingebrannt, wie sie in dem Zimmer saßen, das heute das Computerzimmer ist in dem Haus, das Nicola noch immer bewohnt. „Ich sehe das deutlich vor mir“, sagt er. Moritz dagegen hat nicht vergessen, dass ungewöhnlich viele Autos vor der Tür parkten und dass viele Menschen im Haus waren. „Daran merkte ich, dass etwas Wichtiges passiert sein musste“, sagt er.

In den Tagen nach dem Unglück, als immer deutlicher wurde, dass es keine Überlebenden mehr geben würde, versuchte die Mutter, die Nachrichten über die Tragödie von den Kindern fernzuhalten. Sie entsorgte das Abendblatt und vermied es, den Fernseher einzuschalten. Erst viel später erfuhr sie, dass die Jungs heimlich die Nachrichten schauten. Moritz erinnert sich daran, „dass da immer Namen durchs Bild liefen, ob von Geretteten oder Vermissten, das wusste ich nicht“. Immer wieder hofften sie, den Namen ihres Vaters zu entdecken. Aber da kam nichts, was Hoffnung gemacht hätte. Vier Wochen nach dem Unglück fand in der Bergstedter Kirche eine Trauerfeier statt, um vom Vater Abschied zu nehmen. Whitney Houstons „I will always love you“ wurde gespielt, die Brüder können den Song bis heute nur schwer ertragen.

An den Zeitpunkt, als der Kopf das Herz besiegte und die Erkenntnis sich durchsetzte, dass der Vater nicht wiederkommen würde, erinnern sich beide nicht. „Ich habe trotz der großen Trauer schnell gemerkt, dass das Leben weitergehen muss und mir das Hockeyspielen und meine Freunde dabei helfen“, sagt Moritz. „Schon drei Tage nach dem Unglück stand er für seinen UHC in einem Punktspiel in Großflottbek auf dem Platz und verwandelte einen entscheidenden Siebenmeter“, sagt Nicola. Das sagt viel über seinen Charakter. Er ist ein Stratege, ein pragmatischer Denker, der hypothetische Diskussionen im Ansatz erstickt, „weil es keinen Sinn macht, Antworten auf Fragen zu suchen, die nicht zu beantworten sind“.

Nicht nur, weil er der Ältere war, war er in den Wochen und Monaten nach dem Schicksalsschlag stabiler als Jonas. Der Jüngere ist sensibler, „er hat frei heraus mit mir über seine Gefühle geredet, während Moritz eher kontrollierter war“, sagt Nicola. In der Schule packte Jonas anfangs häufig die Trauer, dann wurde Moritz aus seiner Klasse geholt und durfte den Bruder auf dem Schulhof trösten. Auch in späteren Jahren kam es vor, dass Jonas den Unterricht verlassen musste, weil er sich nicht mehr konzentrieren konnte, „zum Beispiel, wenn es in einem Gedicht um einen Ertrinkenden ging“, sagt er. Moritz dagegen musste – ein Gipfel der Pietätlosigkeit – vier Wochen nach dem Unglück ein Diktat über ein untergehendes Schiff mitschreiben.

Natürlich hat Nicola Fürste sich oft gefragt, ob ihr Weg der Trauerverarbeitung der richtige war. Sie hat sich nie psychologische Hilfe geholt. Und sie hat, nach reiflicher Überlegung, entschieden, ihre Jungs nicht in die Hände von Psychologen zu geben, weil sie den Sinn darin nicht sah, alte Wunden möglicherweise neu aufzureißen. Finanzielle Sorgen plagten sie nicht, da die Reederei EstLine eine einmalige Opferentschädigung zahlte und die Berufsgenossenschaft eine Hinterbliebenenrente.

Die vielen Freunde und der funktionierende Familienverbund, dazu die Hockeyfamilie im UHC – ihr Gefühl sagte, dass dieses Umfeld die besten Möglichkeiten böte, um das Geschehene zu verarbeiten. Wobei alle drei dieses Wort ablehnen. „Eine solche Sache kann man nicht verarbeiten, sie bleibt für immer“, sagt Moritz, „deshalb gibt es auch nicht den einen, richtigen Weg, damit umzugehen. Jeder muss seinen eigenen Weg finden.“ Man muss Nicola dennoch bewundern für die Stärke, die sie aufbrachte. „Kinder brauchen in solchen Situationen einen festen Halt und eine Mutter, die an ihrer Seite stark ist“, sagt sie. Natürlich habe man viel geweint, gemeinsam und allein. „Aber darüber geredet haben wir nie zu dritt. Auch wenn ich es mir manchmal gewünscht hätte“, sagt sie.

Sie hat ihre Jungs deren persönlichen Weg der Trauerbewältigung finden lassen. Jonas fiel es lange immens schwer, mit anderen Menschen als seiner Mutter über den Verlust zu reden. Mit der Zeit, als er andere Jugendliche kennenlernte, die ähnliche Schicksalsschläge zu verarbeiten hatten, und spürte, dass er diesen mit seinen Erfahrungen auch Mut machen konnte und geteiltes Leid tatsächlich zu halbem Leid führte, öffnete er sich nach und nach. Seit er sein Abitur gemacht hat, spricht er viel und gern über das Erlebte, er hat auf seinem Schreibtisch ein Fotobuch liegen, das ihn ständig an den Vater erinnert.

Moritz dagegen hat noch nie von sich aus ein Gespräch mit Freunden oder seiner Freundin Stephanie gesucht. Er antwortet, wenn gute Kumpel ihm Fragen stellen, aber aktive Erinnerung findet kaum statt. Dennoch hat auch er seine emotionalen Momente erlebt. In den Jahren nach dem Unglück weinte er sehr oft auf Schulpartys, wenn sentimentale Musik gespielt wurde. Als er 2007 zu Hamburgs Sportler des Jahres gewählt wurde, fand die Ehrung am 50. Geburtstag seines Vaters statt. In seiner Dankesrede erwähnte er das, es war bislang seine einzige öffentliche Stellungnahme zu dem Thema.

Nach den Olympiasiegen, als ihm die Goldmedaille um den Hals gelegt wurde, ging sein Blick gen Himmel. Unbewusst zwar, wie er sagt, aber wohl doch im Gedenken an den Vater, der so stolz gewesen wäre. Und einmal, da war er 13 Jahre alt und Nicola verreiste für eine Woche nach New York, lag er während der gesamten Dauer ihrer Abwesenheit krank im Bett. Als sie zurückkehrte, schüttete er ihr sein Herz aus, drei Stunden lang. „Da kam alles hoch, und ich glaube, das hat ihm sehr gutgetan“, sagt sie. Ein extrem wichtiger Moment sei das gewesen in ihrem gemeinsamen Leben, einer, der ihr verdeutlicht habe, dass auch Moritz sehr wohl sentimental sein konnte.

Die Erinnerung an den Vater speist sich aus Fotos, Filmen und Erzählungen

Die Erinnerungen an den Vater sind bei beiden Brüdern stark verblasst. Jonas speist seine Eindrücke vor allem aus Fotos, Filmen und Erzählungen, er hat noch ein Bild vor Augen, als sie auf dem Weg zu einem Hockeyspiel einen Auffahrunfall hatten, mehr ist da nicht. Auch Moritz hat nur noch wenige Schlaglichter des gemeinsamen Lebens gespeichert, aber es passiert ihm sehr häufig, dass er im UHC auf die Ähnlichkeiten zwischen ihm und seinem Vater angesprochen wird. „Dann halten die Menschen oft minutenlange Monologe über seinen tollen Charakter“, sagt er. Als er 25 Jahre alt war, ließ ihn seine Mutter nach einem intensiven Gespräch darüber, was für ein Mensch der Vater gewesen war, die Briefe lesen, die Peters Arbeitskollegen nach dem Unglück an seine Mutter geschrieben hatten. „Die waren wahnsinnig emotional und herzzerreißend“, sagt Moritz, „das hat mich tief bewegt.“

Was die Söhne von ihrem Vater geerbt haben, vermag Nicola Fürste nicht einzugrenzen. „Es sind so viele Dinge. Wenn ich Moritz und Jonas so nebeneinander sitzen sehe, dann sehe ich ihren Vater genau in der Mitte. Er ist in beiden zu gleichen Teilen vertreten“, sagt sie. Moritz habe zudem viel von ihrem Bruder und ihrem Vater, Jonas dagegen eher vom jüngeren der beiden Brüder ihres Mannes mitbekommen. Bisweilen habe sie sich auch gefragt, wie das Leben ihrer Jungs verlaufen wäre, wenn der Vater nicht gestorben wäre, wenn er noch lebte und die Erfolge seiner Söhne miterleben könnte. „Ich bin aber überzeugt davon, dass letztlich nichts anders gekommen wäre“, sagt sie, und das ist eine ungemein beruhigende Antwort, weil sie impliziert, dass Kinder auch dann noch unbehelligt aufwachsen können, wenn ein Elternteil nicht mehr da ist.

Die sterblichen Überreste Peter Fürstes wurden nie geborgen. Seine Familie hat sich damit abgefunden, es gehört zu den reinen Fakten des Unglücks, die sie pragmatisch zu akzeptieren versuchten, um sich nicht in unnötigen Grübeleien zu verlieren. Nie haben sie versucht, die näheren Umstände des Untergangs zu hinterfragen. Andere Hinterbliebene hatten gewünscht, Kontakt zu Nicola Fürste aufzubauen, doch sie lehnte alle Anfragen ab. Es gibt einen norwegischen Kollegen ihres Mannes, der mit ihm an der Bar gesessen hatte, bevor er zu Bett ging. Der Kollege blieb an der Bar sitzen und überlebte. Auch mit ihm hat sie nie gesprochen. Alle drei sahen keinen Sinn darin. „Das macht Papa auch nicht wieder lebendig“, sagten sie sich.

Selbst Schiffsreisen seien kein Problem, auch wenn Nicola zugibt, sich niemals eine Innenkabine nehmen zu können. Nach seinem Olympiasieg 2012 wurde Moritz auf eine Ostseekreuzfahrt eingeladen und fuhr auf derselben Strecke, auf der sein Vater umkam. Er hatte lange überlegt, ob er die Reise antreten solle, doch während der Fahrt hatte er keinerlei Probleme damit.

Jonas bedauert als Einziger, dass es kein Grab gibt, an dem er trauern kann

Und doch gibt es trotz der pragmatischen Art, mit der die Fürstes das Unumkehrbare akzeptieren, einen gravierenden Unterschied im Umgang mit der Erinnerung. Es ist der einzige Moment während des dreistündigen Gesprächs, in dem es lauter und die Diskussion am Ende abgebrochen wird, weil man nicht zueinander findet. Jonas ist der Einzige der drei, der es bedauert, dass es kein Grab für den Vater gibt. „Ich hätte es schön gefunden, einen Ort zu haben, an den ich mich hätte zurückziehen können, wenn es mir schlecht ging“, sagt er. Nicola dagegen hat sich damit arrangiert, dass es keinen Ort gab, an den sie zum Trauern gehen konnte. Und Moritz sagt, er sehe keinen Sinn darin, jemandem ein Grab zu bereiten, über dessen Schicksal man sich nicht zu 100 Prozent sicher sein könne. Natürlich glaubt heute, 20 Jahre nach dem Unglück, niemand mehr an ein Überleben von Peter Fürste. Aber wo kein Leichnam existiert, da kann es auch kein Grab geben. Diesen Gedanken kann man sehr gut nachempfinden.

In Stockholm, wo die „Estonia“ einlaufen sollte, hat die Reederei ein Denkmal errichtet. Die Fürstes waren bislang nicht dort, aber die Reise ist fest eingeplant. Und an diesem Sonntag werden sie im engsten Familienkreis essen gehen. Es ist das erste Mal, dass sie den Todestag gemeinsam begehen. Allerdings wird es erst um 19.30 Uhr losgehen, vorher müssen die Brüder noch das HSV-Spiel gegen Eintracht Frankfurt sehen. Ihr Vater, sagt Nicola, würde das verstehen. Er hätte es genauso gemacht.