Seit einer lebensbedrohlichen Erkrankung ist Andreas Pusch schwerbehindert. Er startet bei den Cyclassics, um anderen Mut zu machen

Wilhelmsburg. Kurz nach dem vereinbarten Termin ruft der Fotograf an. Er ist ganz am anderen Ende des Wilhelmsburger Inselparks und zu Fuß unterwegs, das kann dauern. Also rauf aufs Rad und hingefahren. Andreas Pusch fährt voraus, er legt ein ordentliches Tempo hin. „Auf dem Fahrrad fühle ich mich frei“, ruft er herüber. Dann merke er kaum noch etwas von seiner Behinderung, den ständigen Schmerzen im Fuß, der Lähmung des Hebemuskels, die es ihm nicht mehr erlaube, Moped zu fahren oder Fußball zu spielen. Und die ihm Hemmungen bereitet, tanzen zu gehen.

Beim Gehen fühle er sich beobachtet, weil er den Fuß nicht mehr normal aufsetzen kann. Sechs Jahre könne es dauern, bis die Nerven geheilt sind, das haben sie ihm erklärt. Möglicherweise heilen sie aber auch nie mehr. Andreas Pusch, 45, hat sich mit diesem Gedanken abgefunden.

Am Sonntag will er bei den Vattenfall Cyclassics das Jedermannrennen fahren. Eine 55 Kilometer lange Etappe auf dem Weg zurück zu seinem alten Leben, das es seit dem 22. Mai 2012 nicht mehr gibt. Alles fing mit einem Kribbeln an Fingern und Füßen an. Ein Bandscheibenvorfall, dachte Pusch, dachte auch der Orthopäde. Der setzte ihm sechs Spritzen und sagte: „Morgen wird es Ihnen besser gehen.“ Aber nichts wurde besser. Als die Schmerzen immer schlimmer wurden und Pusch immer schwächer, kam er ins Krankenhaus nach Harburg.

Von der Diagnose hat er schon nichts mehr mitbekommen: Guillain-Barré-Syndrom, kurz GBS, eine Autoimmunreaktion, die die Schutzschicht der Nervenbahnen schädigt und zu Lähmungserscheinungen führt. Ursache: vielleicht eine Grippe, die nicht richtig auskuriert wurde. Vielleicht auch nicht. Nichts jedenfalls, was man beeinflussen könnte.

Rund zwei von 100.000 Menschen werden von der Krankheit befallen, Männer häufiger als Frauen. Fünf Prozent der Betroffenen überleben sie nicht. Jeder Fünfte behält Schädigungen zurück, je nach Schwere des Verlaufs. Der frühere Fußballnationalspieler Markus Babbel ist daran erkrankt, eine Zeit lang konnte er sich nur im Rollstuhl fortbewegen. Später konnte er seine Karriere fortsetzen.

Bei Andreas Pusch ist die Prognose nicht gut. Insgesamt fünf Monate verbrachte er im Krankenhaus, drei davon beatmet im künstlichen Koma. Es gab Komplikationen, Lungenentzündung, Lungenembolie. Zweimal musste er reanimiert werden. Er könne sich noch an den Moment erinnern, als sich der Arzt über ihn beugte. Überhaupt habe er erstaunlich viel wahrgenommen im Dämmerzustand, in dem er war: wenn Menschen im Zimmer waren, sich unterhalten haben. Aber er habe auch viele Halluzinationen bekommen von den starken Schmerzmitteln, die sie ihm verabreicht haben.

Auch der frühere Fußballnationalspieler Markus Babbel war betroffe

Als er erwachte, waren von 107 Kilogramm Körpergewicht noch 72 übrig. Es folgte eine fünfmonatige Rehabilitation in Höxter. „Der Physiotherapeut dort hat mich wieder auf die Beine gestellt.“ Im Juni 2013 konnte er die ersten Schritte am Rollator machen. Inzwischen kann er allein laufen, mühsam, aber immerhin.

Seine Anstellung als Lkw-Fahrer im Hamburger Hafen hat der Wilhelmsburger kürzlich aufgegeben, die langen Arbeitszeiten, der Stress. Pusch fühlte sich dem noch nicht gewachsen, als er im vergangenen November wieder anfing: „Ich merke, dass ich leichter reizbar und nicht mehr so Multitasking-fähig bin.“ Seit vergangener Woche ist er selbstständig, zusammen mit einem Freund hat er einen Betrieb für Fahrzeugaufbereitung gegründet. Pusch müsste nicht arbeiten, er könnte es gar nicht mit seiner 70-prozentigen Behinderung, das hätten ihm die Ärzte so zu verstehen gegeben. Die Rente hat er vorsorglich schon beantragt. „Aber ich bin ein Trotzkopf. Und ich habe immer gern gearbeitet.“

Radfahren habe ihn nie interessiert, ein Rennen schon gar nicht. Die Krankheit hat auch seine Einstellung dazu geändert. Irgendwann in der Rehabilitationszeit habe er den Plan geschmiedet, bei den Cyclassics zu fahren. So richtig habe nur seine 15-jährige Tochter daran geglaubt, dass er es schafft. Sie hat ihm dazu eine Facebook-Seite angelegt, um Unterstützer zu werben. Titel des Projekts: „Vom Rollstuhl aufs Rennrad“. Sein bester Freund hat ihm die Ausrüstung gekauft: „Ohne seine Hilfe hätte ich das alles nicht geschafft.“

Am 4. April 2014 hat Andreas Pusch seine erste kleine Runde auf dem Fahrrad gedreht, ein paar Meter nur, seine Freundin hat alles auf Video festgehalten. Inzwischen sitzt er dreimal in der Woche auf seiner gebrauchten Rennmaschine. Es geht auch schon ohne die Orthese, die ihn dabei unterstützt, den Fuß zu heben. An Wochenenden macht er bei organisierten Radtourenfahrten mit, zwischen 60 und 90 Kilometern.

Auf der Internetseite der Deutschen GBS-Initiative lässt sich nachlesen, welch therapeutische Wirkung das Radfahren haben kann. Dort schildern Betroffene, wie sie trotz ihrer Gleichgewichtsprobleme problemlos geradeaus fahren können. In der GBS-Therapie werden Radfahrbewegungen eingesetzt, um die Bewegungsfähigkeit zu verbessern. Allerdings schrecken viele Patienten vor dem Schritt aufs Fahrrad zurück, aus Angst zu stürzen.

Irgendwann lasse auch bei ihm die Kraft nach, so etwa nach 50 Kilometern, erzählt Andreas Pusch. Es fehlt an Muskulatur, vor allem in der Wade. Als er im Juni erstmals wieder in seinem Fitnessclub war, konnte er gerade noch elf Kilo pro Arm drücken. Früher habe er 41 geschafft. Bodybuilding, das war sein Ding, fünfmal die Woche.

Sein altes Gewicht hat er zwar schon fast wieder erreicht. Nur die schmalen Unterschenkel wollen nicht recht zum ansonsten wuchtigen Körper passen. Deshalb seien die 55 Kilometer eine echte Herausforderung für ihn. 25km/h Durchschnittsgeschwindigkeit sind vorgeschrieben, nach spätestens 2:16 Stunden muss er im Ziel sein.

Pusch sagt: „Wenn ich durchkomme, habe ich mein Ziel erreicht.“ Nämlich anderen Mut zu machen, die Ähnliches durchgemacht haben. Er hat sich einer Selbsthilfegruppe angeschlossen, Menschen kennengelernt, denen es noch schlechter geht. Die Begegnungen machten es ihm leichter, sein eigenes Schicksal anzunehmen.

Am Freitag hat sich Andreas Pusch seinen Startbeutel am Gänsemarkt abgeholt, er geht mit Nummer 16.584 ins Rennen. Er will sich hinten im Feld aufhalten, „um nicht über den Haufen gefahren zu werden“. Der Draufgänger zu sein, der 24 Jahre lang Kickboxen betrieben habe, das könne er sich mit seiner Behinderung nicht mehr erlauben. Er vermisse es aber auch gar nicht. Stattdessen versuche er, auf seinem Weg zu mehr Lebensqualität weiterzukommen, auch wenn die Fortschritte immer kleiner würden.

Das Rennen am Sonntag ist so ein Fortschritt. Andreas Pusch will es genießen, solange es geht. Er hat sich vorgenommen, dankbar zu sein: „Ich betrachte alles, was ich jetzt anfange, als zweite Chance im Leben.“ Und bis jetzt habe er dabei alles richtig gemacht.