In St. Georg müssen Prostituierte aus Osteuropa für 30 Euro die Stunde anschaffen. Das Geschäft machen die Zuhälter. Eine Organisation bietet Hilfe für Betroffene.

Männer aus afrikanischen Flüchtlingslagern werden von Schleuserbanden in die Sklaverei gelockt. Mädchen aus Osteuropa werden an Bordelle vermittelt, Frauen aus Nigeria in London als Haussklaven ausgebeutet. „Mit Menschenhandel werden allein in Europa 15 bis 18 Milliarden Euro pro Jahr erwirtschaftet, und das heißt in diesem Gewerbe: steuerfreier Gewinn“, sagt der Hamburger Autor Michael Jürgs. In seinem neuen Buch über Milliardengeschäfte mit der Ware Mensch befasst er sich intensiv mit den Dunkelfeldern dieses Verbrechens. Jürgs hat mit Fahndern gesprochen, Razzien begleitet und Hilfsprojekte besucht. Das Problem ist global: Zwischen 16 und 20 Millionen Menschen werden durch die moderne Sklaverei um ein selbstbestimmtes Leben gebracht.

Hamburger Abendblatt: Moderne Sklaverei ist ein weiter Begriff. Was fällt für Sie darunter?
Michael Jürgs: Dazu gehören für mich die Arbeitssklaven, die meist aus Osteuropa kommen und hier vor allem in der Fleisch verarbeitenden Industrie, im Hotelgewerbe, aber auch – wie vor einem halben Jahr – in der Werft in Papenburg für Hungerlöhne schuften müssen. Zweitens die Frauen, die in die Zwangsprostitution verschleppt, misshandelt und in Bordelle gezwungen werden. Drittens gehört ganz sicher der Kinder- und Organhandel dazu. Hunderttausende Menschen, die aus Syrien oder Libyen fliehen und in den Flüchtlingslagern der Nachbarländer landen, haben nichts mehr außer der eigenen Familie und dem eigenen Leib. Viele fallen auf Händler herein, die für die Kinder eine scheinbare Zukunft versprechen oder eine Niere kaufen.

In welchen Regionen gehen Menschenhändler auf Sklavenjagd?
Jürgs: Die alten Transferwege der Sklaverei gibt es auch heute. In Westafrika werden Menschen mit falschen Versprechungen angelockt und an die Mittelmeerküste gebracht. An einem Schiff mit solchen Flüchtlingen verdienen kriminelle „Schleuser“ bis zu 180.000 Euro pro Ladung – Menschenhandel ist immer auch Menschenschmuggel. In Armutsländern wie Moldawien oder Bulgarien versprechen spezielle „Agenturen“ Jobs in Ungarn, Tschechien, Israel, Jordanien oder Südkorea. Den Männern stellt man gut bezahlte Jobs auf dem Bau in Aussicht, den Frauen in der Gastronomie, als Kindermädchen oder Model. Sie müssen dann ihre Schulden für die Schleuserdienste abarbeiten. Wer sich wehrt, wird misshandelt und kriegt gar nichts. Am schlimmsten sind junge Frauen betroffen, die in Bordellen landen.

Und dort macht der Menschenschmuggel Dumpingpreise möglich?
Jürgs: In Deutschland gibt es etwa 1,2 Millionen Freier aus allen Schichten. Von denen glauben offenbar viele, es gehe mit rechten Dingen zu, wenn im Bordell eine „Flatrate“ angeboten wird: eine Wurst, ein Bier, eine Frau für zehn oder 20 Euro. So als sei die Frau ein Schnäppchen wie nach dem Werbespruch „Ich bin doch nicht blöd“.

In welchen Ländern werden Sklaven vor allem eingesetzt?
Jürgs: In Katar schuften sie für die Fußball-Weltmeisterschaft, wie wir kürzlich erfahren haben, 16 Stunden am Tag, sieben Tage pro Woche, und fast täglich gibt es tödliche Arbeitsunfälle. Auch in Dubai, Abu Dhabi, Riad und Kuwait werden Hunderttausende indische und asiatische Arbeitskräfte auf Megabaustellen schlecht bezahlt und menschenunwürdig untergebracht. Aus Italien kam vor zwei Monaten die Nachricht, dass sieben Chinesen in einer der Textilfabriken verbrannt sind. Im Textilgewerbe der Toskana, schätzt das Arbeitsministerium, sind etwa 40.000 chinesische Arbeiter unter menschenunwürdigen Umständen beschäftigt, rund 10.000 von ihnen illegal. Mitten in Europa. Niemand kann mir sagen, dass die lokale Polizei davon nichts gewusst hat. Wir hatten die „Zimmermädchenaffäre“ in deutschen Hotels, als Subunternehmen Zimmermädchen für drei Euro die Stunde vermittelten. Und unsere Spreewaldgurken werden auch von rumänischen Arbeitssklaven geerntet, die oft für Hungerlöhne arbeiten.

Warum lässt sich in Deutschland heute mit Menschenhandel Geld verdienen?
Jürgs: Der Menschenhandel hat mit dem Ende des Kalten Kriegs einen Aufschwung genommen, vorher waren die Grenzen dicht. Heute haben wir in den 28 Ländern der EU offene Grenzen, allein in Berlin sollen 100000 Illegale leben. Darunter sind nicht nur nette Menschen, sondern natürlich auch albanische, türkische, tschetschenische Banden, die vom Menschenhandel leben. Behörden wie Frontex und unsere Bundespolizei stehen vor einem riesigen Problem. Ich glaube, wir haben darauf eine zu innenpolitische Sicht. Wir regen uns auf, wenn es um die Höhe von Hartz IV geht, aber das ist im Vergleich zum Problem der modernen Sklaverei geradezu lächerlich.

Immer wieder werden in deutschen Bordellen Zwangsprostituierte aus Osteuropa entdeckt. Wie viele Frauen sind davon bundesweit betroffen?
Jürgs: Genau kann das niemand beziffern. Es gibt ein riesiges Dunkelfeld. Man weiß nicht, ob es 200.000 oder 400.000 Prostituierte in Deutschland gibt, weil sie sich nicht immer anmelden. Man weiß also auch nicht, ob davon 60, 70 oder 80 Prozent Zwangsprostituierte sind. Fündig werden die Ermittler auch in den Wohnmobilen an Landstraßen und auf dem Straßenstrich.

Das Prostitutionsgesetz, das 2002 unter Rot-Grün verabschiedet wurde, sollte doch Prostitution legalisieren und auch der Zwangsprostitution den Boden entziehen. Warum wurde das nicht erreicht?
Jürgs: Das war ein gutmenschliches Gesetz mit der ehrenwerten Absicht, dass die Frauen endlich kranken- und rentenversichert sind. Es wollte das Gewerbe aus der Schmuddelecke befreien, aber es hat das Gegenteil bewirkt. Der Großbordellbesitzer kann die Frauen jetzt wie selbstständige Unternehmerinnen behandeln. Er kann sagen, ich biete ja nur die Räumlichkeiten und habe mit dem Rest nichts zu tun. Und die Polizei hat keine Möglichkeit mehr – weil es ja selbstständige Unternehmerinnen sind –, das Bordell zum Beispiel durch eine Razzia der Steuerfahndung überraschend zu überprüfen und festzustellen, ob für die Angestellten Steuern gezahlt wurden.

Ein Mitarbeiter des LKA Hamburg sagt: „Es kann nicht angehen, dass man eine Genehmigungspflicht für eine Imbissbude braucht, während ein verurteilter Menschenhändler einfach einen Puff aufmachen kann.“
Jürgs: Er hat vollkommen recht. Die GroKo hat im Koalitionsvertrag auch schon vereinbart, dass es ein neues Gesetz mit wichtigen Neuerungen geben wird: Verbot von Flatrates, keine Frau darf unter 21 Jahren anschaffen, und Bordelle müssen als Gewerbe angemeldet werden. Dann hätte die Finanzkontrolle tatsächlich einen Zugang, und der Betreiber kann nicht mehr sagen: Ich bin ja nur der Vermieter.

In St. Georg verkaufen sich Frauen aus Osteuropa für 30 Euro die Stunde – nirgendwo sonst ist Sex so billig. Die meisten arbeiten für Zuhälter, die ihnen noch das meiste Geld abknöpfen. Warum ist es so schwer für die Polizei, den Profiteuren das Handwerk zu legen?
Jürgs: Sie braucht aussagewillige Frauen, die angeben, durch welche Hintermänner sie über die Grenze geschmuggelt wurden, bei wem sie sich dafür verschulden mussten und wer sie mit Gewalt gefügig gemacht hat. Aber warum sollte eine Frau aus einem Nicht-EU-Land aussagen, wenn sie Angst haben muss, dass sie danach abgeschoben wird? Oder eine Frau aus der EU, wenn sie befürchten muss, dass sie selbst oder ihre Familie dann bedroht werden? Es braucht viel Geduld, aber auch Möglichkeiten zur Therapie und Ausbildung für diejenigen, die zur Aussage bereit sind. Es ist auch keine Alternative, sich an Schweden oder Norwegen zu orientieren, wie Alice Schwarzer fordert. Dort ist die Prostitution verboten, die Freier werden bestraft. Aber dann kommt die Polizei an die Hintermänner gar nicht mehr heran.

Sie berichten auch über Kofraa, die Hamburger Kontaktstelle gegen Frauenhandel, die den Frauen Beratung und Betreuung beim Ausstieg anbietet. Kann Kofraa etwas ausrichten?
Jürgs: Kofraa wird vom Landeskriminalamt eingeschaltet, wenn der Polizei bei Razzien oder Kontrollen etwas auffällt. Die Hilfsorganisation bietet dann auf Handzetteln in verschiedenen Sprachen Hilfe an, über eine Telefonnummer oder auch sofort. Bei Vernehmungen der Frauen stellt Kofraa Dolmetscherinnen, damit nicht der Zuhälter für die Frauen spricht. Er kommt nicht in denselben Raum. Dieses Hamburger Modell, also eine enge Zusammenarbeit von Polizei und Hilfsorganisationen, ist mittlerweile in allen Bundesländern als beispielhaft akzeptiert. Es führt pro Jahr zu 60 bis 70 erfolgreichen Fällen, in denen die Frauen aus diesem Milieu herausgeholt, in eine Ausbildung vermittelt werden und eine Therapie bekommen. Vor ein paar Jahren kam Kofraa mit Dolmetscherinnen in zwei Sprachen aus, heute sind es 16 Sprachen.

In den Herkunftsländern bauen die Menschenhändlerbanden eine Angstkulisse auf, setzen Angehörige der Frauen unter Druck. Wie kann man das verhindern?
Jürgs: In einer internationalen Zusammenarbeit müssten die Behörden am Herkunftsort eingebunden werden und die Angehörigen der Frau schützen. Aber in Ländern wie Rumänien, Bulgarien oder Nigeria ist die Korruption oft zu stark, sodass dieser Schutz nicht geleistet werden kann.

Was müsste sich ändern, um den Menschenhändlern wirklich zu schaden?
Jürgs: „Folge der Spur des Geldes“ ist oft die beste Devise. Die italienischen Mafia-Jäger beschlagnahmen die Vermögen, Immobilien und Autos der Verdächtigen, die Besitzer müssen dann nachweisen, dass sie sie legal erworben haben. Bei uns hat die Staatsanwaltschaft die Beweislast. Zweitens müssten die Gerichte im Rahmen der bestehenden Gesetze die Höchststrafen anwenden. Zu viele Richter begnügen sich damit, nur wegen Geldwäsche zu verurteilen statt wegen Menschenhandels, weil das umständlicher und langwieriger ist.

Nach Ihrer Meinung sollten Menschenhändler wie Terroristen verfolgt werden.
Jürgs: Ja, für mich ist Menschenhandel ebenso eine Verletzung der Menschenrechte wie die Planung von Attentaten, nur dass sogar Millionen Menschen betroffen sind. Ich frage mich, warum die NSA und der britische Geheimdienst GCHQ ihre umfangreichen Datensammlungen nicht mit Schlüsselwörtern aus dem Menschenhandel durchforsten. Und ich werde hier ganz moralisch. Männer, die für 20 Euro Prostituierte missbrauchen, und Unternehmen, die Billigstarbeiter einsetzen, müssen wissen, welche Schuld sie auf sich laden, wenn sie von solchen Missständen profitieren. Wenn es im 18. und 19. Jahrhundert nicht die mutigen Abolitionisten gegeben hätte, die den Sklavenhandel aus christlichen und moralischen Gründen öffentlich angeprangert haben, hätte sich nichts geändert.

Michael Jürgs: Sklavenmarkt Europa. Das Milliardengeschäft mit der Ware Mensch, Bertelsmann, 352 Seiten, 19,99 Euro