Erst Ausbildung, dann höherer Abschluss: Hamburg baut Möglichkeiten aus. Lehrer loben Schüler als besonders motiviert und zielstrebig.

Hamburg. Johanna Schön könnte jetzt in einer Bankfiliale sitzen, mit den besten Anlagemöglichkeiten jonglieren und jeden Monat ein sicheres Gehalt auf dem Konto haben. Stattdessen büffelt sie Wahrscheinlichkeitsrechnung, analysiert komplizierte Textstrukturen und fasst englischsprachige Texte zur Globalisierung zusammen.

Seit anderthalb Jahren besucht die 24-Jährige die Berufsoberschule – Fachrichtung Wirtschaft – in Hammerbrook. Nach Realschulabschluss, Banklehre und drei Jahren Berufstätigkeit hat sie sich entschieden, noch einmal auf die Schulbank zurückzukehren. „Ich wollte schon immer Pädagogik studieren“, sagt Schön. Sie gehört zu den Ersten in Hamburg, die im Sommer ihr Abitur an der neuen Schulform ablegen.

In den vergangenen drei Jahren hat Hamburg die Möglichkeiten für Jugendliche und junge Erwachsene ausgebaut, an berufsbildenden Schulen einen höheren Schulabschluss zu machen. Im Schuljahr 2012/13 haben insgesamt 4866 Schüler diese Möglichkeit genutzt – das war fast ein Drittel aller Absolventen berufsbildender Schulen. Das geht aus einer Statistik der Schulbehörde hervor, die dem Abendblatt exklusiv vorliegt. „Durch mehrere Reformmaßnahmen wurde die Durchlässigkeit in der beruflichen Bildung deutlich erhöht“, sagt Schulsenator Ties Rabe (SPD). 22 Prozent aller Hamburger Schüler (gut jeder Fünfte) erreichen ihre Berechtigung zum Studium an einer beruflichen Schule, also nicht an einem allgemeinbildenden Gymnasium.

Seit 2011 können Berufsschüler zudem neben ihrer Ausbildung die Fachhochschulreife erwerben. Das Programm nennt sich Dual Plus und bietet die Möglichkeit, in drei Jahren durch die Teilnahme am freiwilligen und kostenlosen Abendunterricht zusätzlich den Abschluss zu machen. Bisher nutzten 377 Auszubildende dieses Angebot.

Eine weitere Möglichkeit ist die zweijährige Berufsoberschule (BOS), die 2012 nach dem Vorbild von Baden-Württemberg und Bayern eingeführt wurde. In Hamburg wird sie in vier Ausbildungsrichtungen – Gestaltung, Gesundheit und Soziales, Technik sowie Wirtschaft und Verwaltung – angeboten. Im ersten Jahrgang starteten 93 Schüler, im zweiten schon 134. „Die Schüler sparen bis zum Abitur ein Jahr Zeit in der Oberstufe. Außerdem ist es sehr flexibel“, sagt Astrid Höhne, Leiterin der Beruflichen Schule City-Süd, an der die Berufsoberschule Wirtschaft angesiedelt ist. Voraussetzung ist der mittlere Bildungsabschluss (mit einem Notendurchschnitt von mindestens 3,0 in den Hauptfächern) und eine abgeschlossene Berufsausbildung oder ein Berufsschulzeugnis (mindestens 2,5 in der Abschlussnote). Johanna Schön war besser. „Trotzdem hatte ich Respekt, wie ich sechs Jahre nachdem ich die Schule verlassen habe, mit Fächern wie Mathe oder Englisch klarkomme“, sagt die gebürtige Allgäuerin, die ihrem Freund an die Elbe gefolgt war.

Vor dem Schulbeginn nahm sie deshalb an einem dreimonatigen Mathe-Vorbereitungskurs teil. „Unsere Schüler sind sehr motiviert“, sagt die Abteilungsleiterin für die Berufsoberschule, Sandra Garbade. Die jungen Leute wüssten, warum sie kommen, und hätten ein klares Ziel. So erreichten im ersten Jahr der neuen Schulform 83Schüler die Fachhochschulreife. Manchen war das genug, sie studieren jetzt an der Fachhochschule.

Zu den 33 Schülern an der Beruflichen Schule City-Süd, die im Sommer als erste BOS-Schüler Abitur machen wollen, gehört André Kittel. Der 22-jährige Rahlstedter hatte nach seinem Realschulabschluss eine Lehre zum Groß- und Einzelhandelskaufmann gemacht. „Ich möchte weiterkommen und Wirtschaftspsychologie studieren“, sagt der junge Mann. Er fand schnell den Anschluss ans Lernen und bereitet sich jetzt auf die Abiklausuren im Mai vor.

Geprüft werden die Fächer Mathe, Deutsch, Englisch und Betriebswirtschaftslehre als Profilfach. Dazu kommt eine mündliche Prüfung. Auch das Curriculum ist anders als an den allgemeinbildenden Gymnasien. In Deutsch etwa arbeiten die Schüler mit dem Krimi „Tannöd“ statt sich mit den deutschen Klassikern zu beschäftigen oder Rilkes Liebeslyrik zu durchdringen.

„Wir setzen bei den Vorkenntnissen der Schüler an, deshalb ist die Verkürzung möglich“, sagt Pädagogin Sandra Garbade. Viele gingen davon aus, dass man schon während der Schulzeit entscheiden müsse, ob man Abitur machen will. Es gebe aber viele Möglichkeiten, später einzusteigen. „Das muss kein Knick in der Schullaufbahn sein.“

Für Johanna Schön ist es der richtige Weg. „Ich finde es richtig schön, wieder Schülerin zu sein.“ Dafür hat sie sich reduziert. Im ersten Berufsoberschuljahr hat sie von den Ersparnissen aus ihrer Bankzeit gelebt, inzwischen bekommt sie BAföG. „Für mich ist das eine Investition in die Zukunft“, sagt sie. Ihr Ziel fürs Abitur ist klar: Ein Einser-Schnitt sollte es schon werden.