Eine Inspektion wirft Behörden Fehler und „Leichtgläubigkeit“ im Fall der toten Yaya vor. Als Konsequenz will die Stadt Hamburg Kinderrechte nun im Grundgesetz verankern.

Hamburg. Die Jugendämter aus Eimsbüttel und Hamburg-Mitte tragen eine Mitverantwortung am dem Schicksal der dreijährigen Yagmur Y. aus Billstedt. Zu diesem Schluss kommt die Jugendhilfeinspektion in ihrem Prüfbericht, den Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) am Donnerstag vorgestellt hat.

Demnach habe es in den Jugendämtern mehrere „Wendepunkte“ gegeben, an denen falsch entschieden worden sei. Scheele machte klar, dass mit dem Bericht, der wegen der Einhaltung des Sozialdatenschutzes in großen Teilen geschwärzt vorgelegt wurde, niemand an den Pranger gestellt werden solle. Der Senator kündigte als eine Konsequenz, eine Bundesratsinitiative zu starten, mit dem Ziel, das Kinderrecht im Grundgesetz festzuschreiben.

Yagmur, genannt Yaya, war am 18.Dezember an inneren Blutungen infolge eines Leberrisses gestorben. Dem Vater Hüseyin Y. wird Totschlag vorgeworfen, der Mutter Melek Y. Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen. Das Ehepaar sitzt in U-Haft.

„Es gibt nicht den entscheidenden Schuldigen, sondern eine Verkettung von vielen Fehlern unterschiedlicher Institutionen“, sagte Horst Tietjens, Leiter der Jugendhilfeinspektion. Es seien jedoch im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) über die Zeit und infolge von Zuständigkeitswechseln Fehler passiert, „die nicht den Tod des Mädchens zur Folge hatten, aber zumindest das Entdeckungsrisiko für den/die Täter erheblich vermindert haben“, heißt es in dem 44 Seiten langen Bericht. „Im ASD war die notwendige Sensibilität für das Wohlbefinden des Kindes schlicht abhanden gekommen.“ Zumindest habe sich kein ASD-Mitarbeiter die Mühe gemacht, Yagmur eingehend in Augenschein zu nehmen. Weiter heißt es in dem Bericht: „Das Kind geriet aus dem Fokus des Handelns zugunsten einer entwickelten Leichtgläubigkeit den Ausführungen der Eltern gegenüber.“

Den ersten Wendepunkt gab es Ende Januar 2013, als das Mädchen zum dritten Mal binnen weniger Wochen ins Krankenhaus kam. Yaya litt unter schwersten Schädelverletzungen und einer Entzündung der Bauchspeicheldrüse, beides ausgelöst durch Schläge.

Die Eimsbütteler Jugendamtsmitarbeiterin sei jedoch nicht der Frage nachgegangen, ob sich das Kind damals bei der Pflegemutter oder den leiblichen Eltern aufhielt. „Wären diese Informationen gezielt erarbeitet worden, hätte sich zumindest das Bild ergeben, dass mit einer hohen Wahrscheinlichkeit die Verletzungen von den Eltern verursacht wurden“, heißt es.

Ein weiterer entscheidender Wendepunkt war der Brief der Pflegemutter an das Jugendamt und die Polizei, in dem sie vermutet, dass sie selbst an Yagmurs Schädelverletzungen schuld sein könnte. „Die Selbstschuldvermutung hat dazu geführt, dass sie als Entlastung der Eltern interpretiert wurde“, sagte Tietjens. Später stellte sich heraus, dass die Beschreibung der vermeintlichen Tat nicht zu den Verletzungen passte. Das Urteil der Jugenhilfeinspektion dazu ist eindeutig: „Aus einer kritischen Distanz heraus, hätte es angesichts dieser Sachlage auch unter Wertung des Elternrechts und möglicher bindungstheoretischer Erwägungen, keine Weichenstellung für eine kurzfristige Rückführung in die Familie der leiblichen Eltern geben dürfen.“

Zur nächsten Wendung kam es, als das Jugendamt Mitte den Fall Yaya am 1.Juli 2013 übernahm. Dort habe es laut Bericht einen „deutlichen Qualitätswandel in der Dokumentation“ gegeben. Der Fokus auf das Kind ging zunehmend verloren. Nach Abendblatt-Informationen habe die Jugendamtsmitarbeiterin nicht den Eindruck gehabt, dass es um Kindeswohlgefährdung gehe. Für die Inspektion sei das nicht nachvollziehbar. Hinzu kommt, dass es wegen einer Erkrankung einer Mitarbeiterin einen Zuständigkeitswechsel zu einer Kollegin gab. Auch hier gingen Informationen verloren.

Offenbar wurden weder die Akten des Jugendämter noch die der Staatsanwaltschaft aufmerksam gelesen. Die Jugendhilfeinspektion kommt nach Abendblatt-Informationen auch zu der Erkenntnis, dass die neue Mitarbeiterin des Jugendamts Mitte mit dem Fall Yagmur völlig überfordert war. Beim ersten und letzten Treffen mit Melek Y. und ihrer Tochter Yaya habe sie offenbar nicht den Gesundheitszustand überprüft und akzeptiert, dass die Eltern das Kind nicht mehr in die Kita schicken wollten.

Senator Scheele will nun Konsequenzen ziehen. „Das Kinderrecht soll eigenständig im Grundgesetz verankert werden“, sagte er zur geplanten Bundesratsinitiative. Es habe sich gezeigt, dass im Fall Yagmur im Zweifel zugunsten der Eltern entschieden worden sei. „Das Kinderrecht soll den gleichen Rang erhalten wie das Elternerziehungsrecht.“ Zentrales Problem sei, dass an der Rückführung des Kindes zu seinen Eltern festgehalten worden sei.

Eine weitere Konsequenz soll sein, dass alle Hilfen zur Erziehung für auffällige Familien an der Pflicht zum Besuch einer Kita oder Krippe gebunden wird. „Wir wollen die Mitarbeiter der Jugendämter ermutigen, sich an die Familiengerichte zu wenden, damit die betroffenen Kinder sichtbar werden“, sagte Scheele. Er habe zudem bereits Kontakt zu Klaus Püschel, dem Leiter der Rechtsmedizin am UKE, aufgenommen und sich mit ihm über eine Kooperation verständigt. So sollen Jugendamtsmitarbeiter sich bei Missbrauchsverdacht an das Kinderkompetenzzentrum wenden können.

Personelle Konsequenzen müsse es aus seiner Sicht nicht geben. Der Bericht der Jugendhilfeinspektion sei zwar schonungslos und deshalb für die betroffenen Mitarbeiter „schwer anzunehmen“. Scheele kündigte an, sich vor die Mitarbeiter zu stellen, mit ihnen zu reden, „aber ohne Tribunal“. Auch die Bezirksamtschefs Torsten Sevecke (Eimsbüttel) und Andy Grote (Mitte) hätten nichts zu befürchten. Sevecke und Grote schlossen personelle Konsequenzen in den Jugendämtern aber nicht aus. Sevecke sagte, dass er eine Taskforce eingerichtet habe, die klären soll, wie es zu den Fehlern kam. Er erwarte den Bericht in der kommenden Woche.

Dazu der Bürgerschaftsabgeordnete Christoph de Vries (CDU): „Man gewinnt den Eindruck, als seien alle blind gewesen und hätten die körperliche und seelische Unversehrtheit des Kindes als entscheidenden Handlungsmaßstab aus dem Blick verloren. In den Jugendämtern wurden offensichtliche Risiken systematisch unterschätzt, Ausflüchte und fadenscheinige Erklärungen dagegen gutgläubig hingenommen.“