Simon Pein hat Kindermärchen seines Vaters von 1949 gefunden. Sie entstanden damals als Hausaufgabe. Nun bringt er die Weihnachtsgeschichten als Buch heraus.

Hamburg. Wahrscheinlich ist es manchmal einfach so: Dass einem der größte Schatz ganz lautlos in die Hände fällt, und man es erst nicht merkt, weil dieser Schatz nicht aus Gold und Edelsteinen ist; er ist aus einem Stoff, der viel wertvoller ist als alle Edelsteine der Welt zusammen: Erinnerungen.

Als Simon Pein das alte Schulheft in der Truhe auf dem Dachboden fand, stutze er für einen Moment. Seine Hände glitten über das blaue Glanzpapier des Umschlags, über den grünen Tannenbaum und die Sterne, von denen es sicher früher einmal mehr gegeben hatte. Simon Pein schlug das Heftchen auf. „Ein Märchenbuch“, stand da in ordentlichen Druckbuchstaben, mit blauer Tinte und Füllfederhalter geschrieben. Darunter, mit Buntstiften gemalt, eine Glocke am Band, vielleicht eher: ein Weihnachtsglöckchen. So wie eines, das man früher einmal läutete, wenn die Geschenke unter dem Baum lagen und es endlich losgehen sollte mit der so lang und heiß ersehnten Bescherung.

Eine Bescherung, so könnte man auch das nennen, was Simon Pein vor einem Dreivierteljahr passiert ist. „Dieses jahrelang verschollene Märchenbuch fiel mir gemeinsam mit verblichenen Dokumenten und Fotografien auf dem Dachboden meiner Großmutter in die Hände, als ich in einer alten, massiven Holztruhe stöberte“, schreibt der 30-Jährige in der Einleitung des Büchleins, das er in Kürze im Eigenverlag herausgeben wird. „Hier hatten die Märchen geduldig die Jahre überdauert. Sie sind das Ergebnis einer Hausaufgabe, wie sie mein Vater in der 4. Klasse nach dem Krieg (1949) zu Weihnachten aufgetragen bekam.“

Sieben Märchen sind es insgesamt, zu jedem gibt es eine Buntstiftzeichnung, eine Szene der meist dramatischen Geschichte. Sie tragen Titel wie „Im Schlosse“, „Die armen Leute“ oder „Karls Weihnachtstraum“. Manchmal muss man das schmale Heftchen beim Lesen zur Seite legen, weil man das auf sich wirken lassen muss: wie einfach und bescheiden die Wünsche und Sehnsüchte der Kinder damals waren. Eine Eisenbahn. Ein warmes Feuer in einer kalten Winternacht. Ein Bilderbuch oder eine kleine Puppe. Und natürlich Nüsse, Schokolade und Bonbons.

Noch immer ist Weihnachten das Fest der Liebe und der Geschenke, aber die Ansprüche sind gestiegen, und die Berge an Geschenken auch. Es gibt derzeit einen bekannten Gag in den sozialen Netzwerken, alle Jahre wieder wird er von einem Spaßvogel gepostet. Kevin, 11 Jahre, notiert in Krickelschrift seinen Wunschzettel: „1. THQ Wii Schmackdown, 2. Dragon Ball Budokai, 3. War Republic Heroes.“ Daraufhin der Weihnachtsmann: „Lieber Kevin, ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst! Kriegst ein Buch. Dein Weihnachtsmann.“

Seine Antwort hat der Weihnachtsmann mit der Schreibmaschine getippt, und natürlich kann man dem jährlichen Geschenke-Irrsinn der Generation iPod mit genau dieser Ironie begegnen. Man kann sich aber auch einfach in die Märchen der Kinder von 1949 vertiefen. Da geht einem jegliche Ironie flöten. Es ist die Unschuld dieser Kinder, ihre Bescheidenheit, die zutiefst bewegt. Und die Schlichtheit der Bilder, die tiefe Einblicke in die damaligen Kinderseelen erlaubt.

„Es war einmal ein kleiner Junge. Er hieß Karl. Er hatte keine Eltern mehr und war sehr arm“, so beginnt das Märchen von Joachim Schlünzen (siehe unten), einem Schulfreund von Peins Vater. Beim Holzsammeln im Wald wird er so müde, dass er unter einem Tannenbaum einschläft – der Nikolaus erscheint ihm im Traum und nimmt ihn mit zu seiner Hütte, gemeinsam fahren sie von dort in den Himmel. Hier sieht Karl „all die Herrlichkeit“, vor allem aber eine Eisenbahn. Schließlich findet ihn der Förster halb erfroren im Wald.

Simon Pein hat die Märchen, die sein Vater 1949 handschriftlich zusammentrug, um kleine Texte ergänzt, sie erzählen vom Alltag der späten 40er-Jahre. Pein ist kein Historiker, er absolviert derzeit eine Umschulung zum Logistikfachmann. Um ein Gefühl für die Zeit zu bekommen, hat er in alten Büchern gelesen, aber auch mit den Märchenautoren selbst gesprochen – sie sind inzwischen um die 70 Jahre alt. Mitunter standen sie einfach im Telefonbuch. Er rief sie an und besuchte sie; die Lebensgeschichten, die er dabei erfuhr, werden ebenfalls in dem Buch nachzulesen sein. Dass er dieses Projekt in seiner Freizeit angegangen ist, hat viel mit der Überwältigung zu tun, die er gespürt hat. „Mein Vater hat sich gewundert, warum ich mich so stark mit den alten Geschichten beschäftigt habe“, erzählt Pein. Er wirkt sehr jung, fast als wäre er gerade Anfang 20. Wenn er über das Buch spricht, dann fällt oft das Wort „berührend“, manchmal denkt man, dass er in die Märchen richtig hineingekrochen ist.

Dass sie fast alle im Wald spielen, ist ihm zum Beispiel aufgefallen, dass der Weihnachtsmann dort meist seine Hütte hat, auch Karl fällt im tiefen Winterwald in den Schlaf, wo ja auch der Nikolaus lebt. „Das kann natürlich daran liegen, dass die Niendorfer Kinder selbst nah am Wald lebten“, sagt Simon Pein. Doch es könnte eben auch einen anderen Grund geben: „Die Nachkriegszeit waren Jahre des Mangels. Aber auf dem Schwarzmarkt konnte man Dinge erstehen, die es in den Geschäften nicht gab, und der fand im Wald statt.“ Und tatsächlich musste es sich so für die Kinder angefühlt haben: Aus dem Wald kehrten die Erwachsenen mit kostbaren Sachen zurück, und auch wenn man die Logik dahinter als Kind noch nicht so ganz verstand – am Ende zählte immer das Ergebnis.

Dass Karl am Ende seines „Weihnachtsmärchens“ ausgerechnet von dem Mann gerettet wird, den er vorher um sein Holz bestohlen hat, ist für Simon Pein ein weiterer Hinweis darauf, dass die Kinder in ihren Märchen den Nachkriegsalltag verarbeiteten. Das Holzsammeln im Wald war damals wie heute verboten. Der Autor, Joachim Schlünzen, auch das hat Simon Pein recherchiert, ist in jungen Jahren in Hamburg verstorben.

„Ein Märchenbuch“ wird im BOD Verlag erscheinen und 9,90 € kosten, als E-Book Online 7,49 € ( www.bod.de ). Es kann auch über den Herausgeber unter simon.pein@outlook.com bezogen werden. ISBN: 9783732243914