Adolphsens Einsichten: Die Weihnachtsgeschichte erzählt von Flucht und Vertreibung und ist aktuell wie eh und je

Harburg. Gottesdienst am Heiligabend in der Scheune. Im Meyn’schen Hof im Freilichtmuseum am Kiekeberg wie jedes Jahr. Klappbänke sind aufgestellt. Manche haben sich Kissen oder Decken mitgebracht. Etwas bequem sollte es schon sein. Ist doch Weihnachten. An der rechten Seite wiehern Pferde in ihrer Box. Ochs und Esel aus den Krippenspielen fehlen. Es riecht nach Pferd, angenehm für mich. Das Stroh erinnert an das Stroh in der Krippe, die erste wärmende Matratze für das neugeborene Kind.

Ulrike Adams trägt die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium vor, auswendig und sehr angenehm zu hören. Viele haben sie noch auswendig gelernt, diese Urgeschichte von Weihnachten. Originalvorlage all der schönen weihnachtlichen Geschichten aus allen Jahrhunderten. Bücher mit ihnen füllen bei mir zwei Borde. Aber auch der Urtext für alle Weihnachtslieder und die tiefsinnigen Bilder bekannter Künstler: „Es begab sich zu der Zeit, als ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging…“

Die Scheune ist ein Notbehelf. Die Erlöserkirche auf dem Berg in Vahrendorf ist viel zu klein für die vielen Gottesdienstteilnehmer am Heiligen Abend. Die Geburt des göttlichen Kindes im Stall war auch ein Notbehelf. Aber mehr noch eine Notunterkunft für die Niederkunft der hochschwangeren Frau. Maria und Josef waren zwangsweise unterwegs nach Bethlehem. Auf Befehl von oben, von der römischen Besatzungsmacht.

Vielleicht vom Kaiser Augustus höchstpersönlich. Er hatte eine Volkszählung zur Steuerschätzung angeordnet. Eine Unterkunft zu finden gestaltete sich schwierig. Ob das Paar von unfreundlichen hartherzigen Einheimischen mehrfach abgewiesen wurde, kann man nur vermuten. Das ist ja für unendlich Viele zu einer bitteren Erfahrung geworden. Bis heute. Die so genannte Herberge muss klein und kärglich gewesen sein.

So kam das Kind der Fremden an einem fremden und unbehausten Ort zur Welt. Das allererste Weihnachten der Geschichte war nicht gemütlich und verzaubernd. Weder für die Eltern noch für das Kind. Sie mussten erfahren, dass jeder ein Fremder ist, fast überall.

Für die Drei wurde das alsbald zur bitteren Erfahrung. König Herodes trieb sie zur Flucht. Der hatte – wie so viele Mächtige, Herrscher und Diktatoren – Angst um seine Macht und fürchtete sich vor Konkurrenten. Auch vor dem, den die Weisen einen kleinen König nannten. Er plante daher, alle kleinen Kinder in Bethlehem zu ermorden. Durch die vom Engel veranlasste Flucht wurde Jesus als Säugling zum Flüchtlingskind.

Die Flucht nach Ägypten ist eine der vielen Fluchtgeschichten der Bibel. Thomas Mann schildert in seinem Roman „Joseph und seine Brüder“ eindrücklich, wie die Brüder Josephs, die ihren Bruder nach Ägypten in die Sklaverei verkauft hatten, ihm dorthin folgten. Eine Hungersnot trieb sie dazu. Sie reisten ihm nach, aus Sorge um ihre in Not geratenen Familien. Die ersten Wirtschaftsflüchtlinge in der Bibel! Abraham, der Stammvater der drei großen Weltreligionen, wird von Gott aufgefordert, sein Land und seine Heimat zu verlassen. Und in das gelobte Land zu ziehen. Ein umherirrender Gottesmann, der zum Fremden im fremden Land Ägypten wird. Und der gegenüber dem König seine Frau als seine Schwester ausgibt. Eine Notlüge aus Angst, wie sie so viele Flüchtlinge heute haben, die deshalb ihre Identität nicht preisgeben.

Im Alten Testament gibt es viele Flüchtlinge, Kriegsflüchtlinge und Hungerflüchtlinge. Und immer wieder wird betont, dass Fremde zu schützen sind. Gastfreundschaft ist bis heute im Orient ein hohes Gut. Für Ausländer und Einheimische galt weitestgehend das gleiche Recht. Auch die Zugereisten durften in Israel das höchste Fest, das Passahfest, mitfeiern. Denn: „Jeder ist ein Ausländer – fast überall.“ Diesen Satz hatte ich vor Jahren wie viele als Autoaufkleber.

Als der kleine Jesus erwachsen war, hat er Frieden und Gerechtigkeit für alle Menschen angesagt. Die Grenzen oder Mauern zwischen Einheimischen und Fremden hat er aufgehoben. Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz hat er mit der Kraft der Menschenliebe überwunden. Den barmherzigen Samariter, einen Ausländer, der den unter die „Räuber Gefallenen“ uneigennützig und kompetent versorgte, hat er zum Vorbild der Nächstenliebe für Alle gemacht. Später hat dann der Apostel Paulus das so bekräftigt: Alle sind Töchter und Söhne Gottes. „Hier ist nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht Mann noch Frau, denn alle sind einzig-einig in Christus Jesus.“

Zu Recht gilt deshalb: Bethlehem ist überall. Und: Jeder ist ein Fremder fast überall. Es ist also eine weihnachtliche Aktion, wenn die Menschen in Gräfenberg auf die Straße gegangen sind, um gegen Naziaufmärsche und den Ausländerhass von braunen Wirrköpfen zu demonstrieren mit dem Motto: „Du bist ein Fremder überall.“

Das zeigt die große Ausstellung, die vor fünf Wochen in Bonn eröffnet wurde und drei Jahre lang als Wanderausstellung durch europäische Länder zieht. Die Hauptthese dieser Ausstellung lautet: „Europa ist ein Durchgangsland.“ Das ist es seit Jahrhunderten. Die französischen Hugenotten zum Beispiel mussten aus Glaubensgründen vor der Verfolgung fliehen. Das war bei uns so 1992, als über 400.000 vor allem bosnische Kriegsflüchtlinge Schutz suchten und fanden.

In derselben Zeit ist es gelungen, die Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion zu integrieren. Unsere türkischen Mitbürger betrachten Deutschland als Heimat. Vor uns liegt die Anstrengung, syrische Flüchtlinge aufzunehmen. 1,5 Millionen leben im Libanon. Das sind 20 % der Bevölkerung von Libanon. In Deutschland wären das umgerechnet 20 Millionen! Das ruft nach Lösungen auf politischer Ebene. Nach Lösungen, die im weihnachtlichen Geist des Friedens und der Fremdenliebe energisch voranzutreiben sind. Wahrlich: Bethlehem ist überall. Und jeder ist ein Fremder – fast überall.