In der Weihnachtszeit zeigt sich, wie lebendig alte Traditionen sind. Sie bringen Abwechslung in den Alltag und lassen die Menschen näher zusammenrücken.

Wenn es kurz nach 16 Uhr dunkel wird, gibt es draußen nur noch einen lichten und warmen Ort: den Glühweinstand auf dem Weihnachtsmarkt. Der Bummel über einen der 15 Weihnachtsmärkte gehört für viele Hamburger zum alljährlichen Ritual vor dem Fest. Der Duft von Zimt und Anis, die lodernden Flammen an der Lachsräucherei und die vielen Lichter beflügeln die Sinne. Und wenn „White Christmas“ von Bing Crosby aus den Lautsprechern ertönt, gibt es kein Zurück mehr: „Es weihnachtet sehr!“, dichtete schon Theodor Storm.

Mit Weihnachtsmärkten, Einkaufstouren, Lichterketten und Plätzchenbacken beginnt landauf, landab die Weihnachtszeit. Kein anderer Monat im Jahr ist so stark von Ritualen und Bräuchen geprägt wie der Dezember mit der Wintersonnenwende. Vor allem Familien pflegen jetzt ihre ganz individuellen Bräuche aus Großmutters Zeiten. Da werden Plätzchen und Stollen gebacken, alte Lieder gesungen und Kerzen auf dem Adventskranz entzündet. Bis schließlich der Höhepunkt am Heiligen Abend folgt – die Bescherung unter dem Tannenbaum.

Gerade an Weihnachten zeigt sich, wie lebendig diese alten Traditionen und Bräuche in einer modernen Gesellschaft sind. „Das Weihnachtsritual“, sagt Christoph Wulf, Erziehungswissenschaftler und Anthropologe an der Freien Universität Berlin, „hat eine große soziale Dynamik, unabhängig davon, wie jemand Weihnachten interpretiert. Man kann sich dieser Macht nicht entziehen.“ Eine repräsentative Umfrage der GfK Marktforschung Nürnberg im Auftrag der Zeitschrift „Apotheken-Rundschau“ hat jetzt ergeben: Für 73 Prozent der Deutschen ab 14 Jahre gehören Bräuche und Rituale zur Advents- und Weihnachtszeit dazu. Rituale strukturieren die Zeit, gestalten Übergänge, geben Sicherheit und machen das Fest erst wirklich schön. Es ist die Macht kollektiver Gewohnheit, aus der sich alle Jahre wieder die Kontinuität von Weihnachten speist. Im Ritual kann der Mensch den Alltag vergessen. „Es zelebriert den Traum ewiger Dauer“, sagt der Soziologe Tilman Allert.

Als das Fest der Geburt Jesu im vierten Jahrhundert als kirchliche Antwort auf den heidnischen Sonnenkult erstmals gefeiert wurde, entfaltete es rasch eine eigene Dynamik. Schnell fand es seinen Platz in Brauchtum und Kirchenjahr und wurde im achten Jahrhundert offiziell zum Feiertag erklärt. Um diesen Tag zu begehen, verordnete die katholische Kirche zuvor eine Fastenzeit und legte den weiteren Fahrplan fest: Zum Beispiel mit dem Gedenktag für die Heilige Barbara, an dem noch heute am 4. Dezember Kirschzweige geschnitten und in Vasen gestellt werden. Damit sie pünktlich am 24. Dezember blühen. Oder mit dem Nikolaustag am 6. Dezember, der bis zu Martin Luthers Reformation im 16. Jahrhundert der eigentliche Tag für die Bescherung war.

Mit solchen Ritualen gestalten die Menschen den Übergang in die dunklen Wintermonate bis heute. Mehr noch: Sie feiern inzwischen Weihnachten als großes Familienfest. Seit der Herausbildung der bürgerlichen Familie im 19. Jahrhundert ist sie es gewesen, die den Mythos der Heiligen Familie für sich entdeckte. Mit der Folge, dass Weihnachten für die Mehrheit der Deutschen das wichtigste Familienfest im Jahr ist. 78 Prozent der West- und 85 Prozent der Ostdeutschen begehen laut einer Allensbach-Umfrage Weihnachten vor allem als Familienfest, aber nur noch 56 bzw. 30 Prozent in West und Ost als Geburtstag Jesu.

„Ohne diese Feste und Rituale“, sagt der Volkskundler Professor Friedemann Eugen Schmoll, „wäre das Leben nur monotoner, grauer Alltag. Feste und Rituale unterbrechen diesen gleichförmigen Fluss der Zeit.“ Wer ein Fest feiert, so formulierte es einmal der Philosoph Josef Pieper, sagt „Ja“ zum Leben. Und an Weihnachten auch „Ja“ zur Familie. Selbst wenn es manchmal schwerfällt.

In den heimischen Weihnachtsbäckereien entsteht in diesen Tagen ein Kosmos kulinarischer Köstlichkeiten. Gerade die Älteren sind engagiert, den Brauch an die Jüngeren weiterzugeben. Plätzchen, Pfefferkuchen, Marzipan, Aachener Printen und Stollen sind die wohl geläufigsten Kreationen, die seit dem späten Mittelalter den Gabentisch bereichern. Opulentes Essen und Trinken gehören zum Kern von Weihnacht, den „geweihten Nächten“. Für die armen Menschen aus früheren Epochen waren der 24. und 25. Dezember häufig die einzigen Tage im Jahr, an denen sie sich richtig satt essen und einen vollen Bauch haben konnten. Noch heute wird der Heiligabend in Schleswig-Holstein deshalb „Vollbuuksabend“ genannt.

Auch an Hamburger Schulen sind Bräuche wie das Weihnachtsbacken lebendig. Die erste Adventswoche im Gymnasium Rahlstedt etwa begann mit der Verlosung von Adventsgeschenken und gemeinsamem Singen. Wie einst nach der Geburt Jesu die himmlischen Heerscharen jubilierten, stimmen heute die Schüler in den Freudenchor ein. „Die Schülerinnen und Schüler, auch die ‚coolen‘, finden diese Rituale durchaus schön“, sagt Schulleiter Volker Wolter. Riesenspaß hatten die Gymnasiasten bei Julklapp und Weihnachtsessen (es gab Putenbraten), beim Weihnachtsball am vergangenen Freitag und beim Weihnachtsbacken. Wolter ist dankbar dafür, dass es solche Bräuche gibt. Als ritualisierte Handlungen schaffen sie Strukturen in der Monotonie schulischen Lernens. „Eine Schule braucht Rituale – für den Eingang wie bei der Einschulung, für den Ausgang wie bei den Abiturfeiern und für die Rhythmisierung des Jahres.“ Weihnachten, fügt er hinzu, habe da eine besondere Bedeutung. Auch für jene Schüler, die mit dem Christentum nichts am Hut hätten.

Wie stark die Macht der Traditionen ist, zeigt die Wiederkehr der sogenannten Kinderbischöfe. Einst gab es in Hamburg nach der Reformationszeit den Brauch, dass Kinderbischöfe den Senatoren kurz vor Weihnachten ordentlich die Meinung sagen konnten. Die Schüler hatten großen politischen Einfluss. Bis das den Senatoren zu bunt wurde. Erst vor wenigen Jahren entdeckte Hamburg diesen Brauch neu und etablierte wieder das Amt der Kinderbischöfe. Auch in diesem Jahr sind es Schüler der Wichern-Schule. Sie kommen aus der fünften Klasse, heißen Sophie, Tim und Marek und sind nun Bischöfe. Vergangene Woche wurden die drei sogar von Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) empfangen, denn der politische Anspruch ist geblieben. „Wir finden, dass das Recht auf Gesundheit der Kinder in Hamburg nicht immer eingehalten ist“, sagten die Kinder in einer kleinen Rede. „Es ist wichtig, dass Kinder gut essen, damit sie gesund bleiben.“

Wie Wichern-Schulpastorin Katharina Gralla sagt, haben die drei ausgewählten Schüler einen wichtigen Auftrag. „Sie vertreten die Interessen von Kindern in Hamburg.“ Ihre Amtseinführung sei ein großes Ritual, bei dem sie eine Urkunde, Gewänder und die bischöflichen Insignien Mitra, Mantel, Hirtenstab, Ring und Kreuz erhalten. Die Kinder, betont sie, genießen danach einen neuen Status. „Sie werden von ihren Mitschülern mit anderen Augen gesehen.“ Als Bischöfe auf Zeit eben, denn am Dreikönigstag am 6. Januar geht ihre Amtszeit traditionell zu Ende.

Bis dahin kommt das Fest aber noch richtig auf Touren. Die vielen Vorbereitungen in den Familien dienen einzig dem Ziel, Heiligabend in den privaten Weihnachtszimmern stimmungsvoll und ästhetisch zu inszenieren. Das mit dem Weihnachtsbaum geschmückte Wohnzimmer bietet gleichsam die Bühne für die ewig gleichen Rituale. Fondue. Kartoffelsalat. Hummer. Wahlweise natürlich. Ein Drittel der Hamburger Kirchenmitglieder besucht vor dem großen Schmaus noch eine Kirche, um das Familienfest mit dem Segen des Krippenkindes zu präludieren. Von dem Lied „Stille Nacht“ eingestimmt, werden wenig später die Lichter am Baum zu Hause entzündet. Es folgt ein staunendes „Ach, wie schön“. Oder ein ärgerliches „Früher war mehr Lametta“.

Die Bescherung im Kreise der Lieben gilt als Höhepunkt aller weihnachtlichen Rituale. Und als Nagelprobe für den Status einer sozialen Beziehung. Wer weniger als im Vorjahr auf dem Gabentisch hat, dürfte im Ansehen anderer Familienmitglieder gesunken sein. Beim großen Geben und Nehmen jedenfalls werden familiäre Kontakte stabilisiert. „Rituale“, sagt Professor Schmoll, „schaffen vor allem soziale Zusammengehörigkeit, Festgemeinschaften sind immer auch soziale Gemeinschaften. Sie integrieren und verbinden. Und schließen natürlich auch aus.“

Manche Familien lassen bei der Bescherung übrigens gern den Fernsehapparat laufen, weil dort ein weiteres weihnachtliches Ritual zu sehen ist. Es ist die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten, seit den 1960er- Jahren fester Bestand der kollektiven Inszenierung. In diesem Jahr spricht wieder Bundespräsidenten-Pastor Joachim Gauck, nachdem sein Vorgänger Christian Wulff 2010 Dutzende von Ehrenamtlichen zur Aufzeichnung seiner Ansprache ins Schloss Bellevue geladen hatte. Was damals wirklich etwas Neues war. Vor dem leuchtenden Baum dürfte Gauck die Deutschen wieder dazu aufrufen, einander zu helfen und die Familien zu stärken. Er predigt Beistandsmoral. Der soziale Kitt, den er herbeischwört, soll halten. Wenigstens bis zum nächsten Weihnachtsfest.