Veganer Truthahn- und Gänsebraten und veganer Glühwein: Im Phönixhof wurde am Wochenende der erste vegane Weihnachtsmarkt veranstaltet. 80.000 Deutsche leben nach Schätzungen vegan.

Bahrenfeld . Sieht aus wie Truthahn, schmeckt wie Truthahn, ist aber kein Truthahn. Sondern ein täuschend echtes Weihnachtsbratenimitat aus dem Formlabor der veganen Lebensmittel-Ingenieure. Knapp 50 Euro kosten die rund 1,8 Kilogramm modelliertes, fix und fertig gewürztes Soja, das als Tiefkühlware einen weiten Weg aus den USA in die Truhe des veganen Supermarkts Veganz an der Schützenstraße in Bahrenfeld zurückgelegt hat.

Das ist vermutlich nicht zu viel, denn dieses „natürliche Kunstprodukt“ (natürlich auch als Gans erhältlich) macht letztlich nicht nur satt, sondern dürfte eine meditative Wirkung auf die beiden tief verfeindeten Nahrungsmitteltypen ausüben, die sich zu Weihnachten (dem versöhnlichen Familienfeiertag schlechthin) gemeinsam an Esstischen niederlassen müssen. Denn immer häufiger verläuft die Frontlinie zwischen den Carnivoren (Fleischesser) und Veganern mitten durch Familien, Beziehungen, Freundschaften. Und ganz abgesehen von den unterschiedlichen Einstellungen zum Planeten Erde und seiner Flora und Fauna, bedeutet doppelte Kocherei auch doppelte Arbeit. Wer will das schon, am Heiligen Abend und überhaupt? Entgegen so manchem Vorurteil feiern Veganer sehr gerne Weihnachten.

Helen Unsinn, 33, die früher als Brandmanagerin in der großen Werbeagentur Springer & Jacoby arbeitete, wirkt schon jetzt fröhlich. Es mag daran liegen, dass sich vor den beiden Registrierkassen lange Schlangen bilden. „Freitag und Sonnabend sind unsere Großkampftage, weil dann unsere Kunden aus ganz Norddeutschland Zeit haben, nach Hamburg zu fahren“, sagt sie.

Der Erfolg der jungen, aber expansiven veganen Supermarktkette Veganz – in dieser Woche wird in München die fünfte Filiale eröffnet – ermutigte die Inhaberin, Geschäftsführerin und Anteilseignerin, gleich nebenan im Phönixhof den ersten veganen Weihnachtsmarkt zu veranstalten, der sich beim näheren Hinsehen jedoch eher als Verkaufs- und Informationsmesse entpuppt. Darüber kann auch nicht der würzige Duft des veganen Glühweins hinwegtäuschen (veganer Wein wird nicht mit Gelatine, dem Stoffgemisch aus tierischem Protein, geklärt), der gleich am Eingang serviert wird.

Nebenbei bemerkt schmeckt der Glühwein hervorragend und geht politisch vollkommen korrekt in den Kopf. Auch „Äpfel, Nuss und Mandelkern“ oder der deftige Grünkohl mit Kassler aus dem Sojaprodukt Seitan, der vor Ort vom stadtbekannten Restaurant Leaf in Ottensen gekocht wird, sind vegan. Aber mit dem Weihnachtsbaum, der Krippe und einem Jesuskindlein, den reine Schurwolle vorm Erfrieren bewahrte, wird es dann schon wieder kompliziert. So sind die Flyer und Broschüren mit Schockfotos über Massentierhaltung, die von Tierrechtlern wie „peta“ neben Christiane Piotrowskis Stand mit veganem Schmuck (keine Korallen, kein Leder), präsentiert werden, nur bedingt weihnachtsmarkttauglich.

Vom „Öko-Taliban“ bis zum „Lust-und-Laune-Veggie“

Doch nicht nur zu Weihnachten wird Toleranz in der Szene großgeschrieben. Veganer gliedern sich längst in verschiedene Glaubensrichtungen, vom militanten „Öko-Taliban“ bis hin zum lockeren „Lust-und-Laune-Veggie“. „Der Trend geht dahin, sich für ein Stück Käse auch mal eine Auszeit zu gönnen“, sagt Christina Wille, 27, die für die vegane Boutique Avesu aus Berlin zum Weihnachtsmarkt angereist ist und Kleidung, Schuhe und Accessoires verkauft. „Denn Käse kann man durch nichts ersetzen. Aber wenn ich welchen esse, dann immer nur mit der Hoffnung, dass die Milch von einem Demeter-Bauernhof stammt.“ Vegan zu leben beschränke sich jedoch nicht auf die Nahrung, auch wenn das nach wie vor die Mehrheit glaube. „Es ist ein politisches Statement. Ich zeige, dass ich gegen das existierende System angehen möchte“, sagt Christina Wille.

„Bloß das Zeigefingerprinzip funktioniert nicht“, meint Helen Unsinn, da werde man eher weggestoßen. „Wir wollen nur in einer schönen Umgebung unsere Produkte präsentieren. Etwa 40 Prozent unserer Kunden sind vegan, der Rest teilt sich auf in Vegetarier sowie Gesundheitsbewusste.“

Die Nationale Verzehrstudie im Auftrag des Bundesernährungsministeriums ging im Jahr 2006 von rund 80.000 veganen Bundesbürgern aus. Heute, sagen vegane Interessengruppen, seien es bereits 600.000 Gleichgesinnte – wie die Familie Hanker aus Tostedt. Alexander, Heizungsbauer und Kraftsportler, kam über den veganen Bodybuilder Patrik Baboumian, offiziell stärkster Mann Deutschlands, auf den Trip. Er überzeugte nicht nur seine Freundin Jennifer, sondern auch seine Eltern Dagmar und Andreas innerhalb von zwei Jahren vom veganen Leben.

„Für einige Kollegen bin ich jetzt ein Freak“, lächelt der Vater, der als Beamter im Strafvollzug arbeitet. „Früher hatten wir auch eine Gans zu Weihnachten. Aber auch ohne verzichten wir auf nichts. Schließlich geht es um Gerechtigkeit für die Tiere.“ Und die Halbschuhe aus Leder, die er noch trage: das seien bloß Restbestände, meint er, die kämen bald weg.