Erzbischof Werner Thissen wird 75 und gibt Anfang des kommenden Jahres sein Amt auf. Seit November 2002 war er im Amt. Ein Gespräch über sein Amt, sein Leben und die Kirche.

Hamburg. Am 3. Dezember wird der katholische Erzbischof Werner Thissen 75 Jahre alt. Seit November 2002 war er im Amt, nun hat er den Papst, wie es das Kirchenrecht aufgrund seines Alters vorschreibt, um seinen Rücktritt gebeten.

Hamburger Abendblatt: Herr Erzbischof, wann sind Sie heute Morgen aufgestanden?

Erzbischof Werner Thissen: Um 5 Uhr, wie jeden Morgen.

Freuen Sie sich darauf, länger schlafen zu können, wenn der Papst Ihren Rücktritt annimmt?

Thissen: Dann werde ich länger schlafen können. Aber ich weiß nicht, ob ich mich darauf freue. Ich werde mich an einen neuen Tagesrhythmus gewöhnen müssen. Das wird nicht leicht sein. Das ist schon eine einschneidende Veränderung, wenn ich das Bistum nicht mehr leite.

Haben Sie Rituale, die Ihnen den Weg in den neuen Lebensabschnitt erleichtern werden?

Thissen: Meine beiden festen Punkte morgens sind die doppelte Bewegung: die äußere und die innere Bewegung. Äußerlich mit Fahrradfahren oder Laufen, innerlich mit Gebet und Betrachtung.

Geht beides auch gleichzeitig?

Thissen: Ja, wenn ich zum Beispiel auf dem Hometrainer sitze, kommt mir manches in den Sinn, was ich auf Jesus Christus ausrichten kann. Das kann auch zum Gebet führen.

Sie haben früher gern Fußball gespielt und sind HSV-Fan. Haben Sie mehr Zeit im Beichtstuhl oder auf dem Fußballplatz verbracht?

Thissen: Oh, wenn ich den Beichtstuhl nicht wörtlich nehme, weil Beichtgespräche auch hier an diesem Tisch geführt werden, und wenn ich unter Beichte nicht nur die sakramentale Lossprechung verstehe, dann habe ich ein Vielfaches an Zeit damit verbracht.

Katholiken gehen nur noch vereinzelt zur Beichte. Viele vermissen andere Formen wie Bußgottesdienste. Alternativen haben Sie als Bischof aber nicht vorangetrieben.

Thissen: Eine neue Form ist das Beicht- oder das Seelsorgegespräch, und Bußandachten sind etwas sehr Gutes, das ist in den Gemeinden bekannt.

Als Bischof müssen Sie mit 75 Jahren Ihren Rücktritt anbieten. Wie muss man sich das vorstellen?

Thissen: Ich habe das handschriftlich gemacht, aber es gab vorher Gespräche mit dem Vertreter des Papstes in Deutschland. Ich habe gesagt, es fällt mir schwer, von dem Amt Abschied zu nehmen, aber ich halte es für richtig, dass es ein festes Datum dafür gibt. Ich werde nicht an meinem Geburtstag emeritiert werden, habe inzwischen aber auch mit dem Papst gesprochen. Der hat mir gesagt, wir setzen das in den ersten Wochen des Jahres 2014 um.

Hamburg wird dann eine Zeit lang ohne Erzbischof sein?

Thissen: Eine solche Vakanz ist normal. Dann wählt das Domkapitel einen Diözesan-Administrator, der das Bistum in der Übergangszeit leitet. Er darf nichts endgültig Neues installieren, hält das Bistum aber auf dem Stand.

Wie wird ein neuer Bischof gefunden?

Thissen: Viele werden aufgefordert, dem Nuntius geeignete Bischofskandidaten zu benennen. In Rom wird eine Liste erstellt, aus denen das Hamburger Domkapitel den neuen Erzbischof wählt.

Manche fürchten, der Limburger Bischof Tebartz-van Elst könnte nach Hamburg kommen. Schließen Sie das aus?

Thissen: Aus der Frage, wer mein Nachfolger wird, halte ich mich grundsätzlich heraus.

Der Limburger Bischof hat bei der Renovierung seine Privaträume luxuriös ausstatten lassen, allein für 450.000 Euro sollen Gemälde gekauft worden sein. Was hängt bei Ihnen an Werten?

Thissen: Schauen Sie sich um, ich kann es nicht beziffern. Aber ich denke, dass dieser Raum, mein Schlafzimmer und meine Küche nichts mit solchen Summen zu tun haben.

Tebartz-van Elst war Ihr Nachfolger als Weihbischof in Münster. Ist der damals schon irgendwie aufgefallen?

Thissen: Eindeutig nein.

Seit der Limburger Affäre ist das Vermögen der Kirchen, auch der protestantischen, im Gespräch. In den Gemeinden kommt immer weniger Geld an, obwohl die Kirche reich ist. Wie erklären Sie aufgebrachten Gläubigen diesen Widerspruch?

Thissen: Die Debatte, wie die Kirche mit ihrem Geld umgeht, ist wichtig. Wir müssen noch mehr offenlegen. In Hamburg machen wir das seit Langem und stellen unseren Geschäftsbericht ins Internet.

Aber andere Bistümer haben daraus Geheimnisse gemacht.

Thissen: Ich rede nur für unser Bistum. Jeder kann einsehen, wofür wir das Geld ausgeben.

Warum werden im Erzbistum so viele Kirchen geschlossen, verkauft oder abgerissen, obwohl die Zahl der Katholiken gestiegen ist?

Thissen: Seit 1995 wurden im Erzbistum 36 Kirchen geschlossen. Das tut auch mir enorm weh, das sind mit die schwersten Amtshandlungen. Die Stimmung auch bei mir ist dann ähnlich wie bei einem Requiem. Als Bischof entscheide ich nicht alleine, eine Kirche zu schließen. Ich frage den Priesterrat, die örtlichen Mitbrüder und Gremien. Jeder Einzelfall wird sorgfältig überlegt.

Welche Mut machenden Erfahrungen hatten Sie in Ihrer Amtszeit?

Thissen: Zu den glücklichsten Erfahrungen gehört, wenn ich nach dem Gottesdienst vor der Kirche stehe und spüre, dass die Menschen mich verstanden haben. Nach jeder Predigt muss ich selbstkritisch fragen: Habe ich mich so ausgedrückt, dass die Botschaft angekommen ist?

Aber dieses Glücksgefühl kann doch jeder normale Priester haben, was hat Sie denn als Bischof besonders glücklich gemacht?

Thissen: Sie glauben nicht, wie sehr ein Bischof ein normaler Priester ist. Und das Wichtigste, was ich bisher getan habe, kann ich ja weitermachen: seelsorgliche Gespräche führen, das Evangelium verkünden, Gottesdienste feiern.

Zieht es Sie im Ruhestand wieder in Ihren Heimatort Kleve an den Niederrhein oder zurück nach Münster, wo Sie Weihbischof waren?

Thissen: Nein, ich habe das keine Sekunde lang überlegt. Ich bleibe selbstverständlich in Hamburg. Ich werde mir, weil es schwierig ist, bald eine Wohnung suchen, hoffentlich finde ich eine hier in St. Georg. Für mich ist Hamburg eine Stadt, in der man gut leben, streiten, sich bemerkbar machen kann. Und ich hoffe, dass ich dann mehr zu so schönen Dingen wie Kino, Theater, Oper und Konzert komme.

Würden Sie Katholiken, die in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben und Sie bitten, diese Verbindung zu segnen, diesen Wunsch erfüllen?

Thissen: Ich habe oft an diesem Tisch mit Betroffenen gesessen, und wir haben zusammen gebetet.

Aber viele Betroffene leiden doch mehr an dem offiziellen Umgang der Kirche mit diesem Thema, als dass sie sich angenommen fühlen.

Thissen: Es ist eindeutig, dass wir als Kirche nicht von einer solchen Partnerschaft als Ehe sprechen können und wollen.

Nicht als Ehe, aber eine Partnerschaft könnte doch kein Problem sein?

Thissen: Ich schaue nicht zuerst auf die Partnerschaft, sondern auf die Menschen.

Aber die Gespräche halten Sie hier hinter verschlossenen Türen. Warum segnen Sie diese Partner nicht nebenan im Dom?

Thissen: Das tun wir als Kirche nicht, um nicht den Eindruck einer Verwechslung mit der Ehe zu erwecken. Aber mir liegt sehr daran, solchen Menschen zu vermitteln, ihr seid mir willkommen, ich schätze und achte euch.

Fehlt es nicht an Signalen, auch an wieder verheiratete Geschiedene, die nicht zu den Sakramenten zugelassen werden?

Thissen: Wir sind in der Bischofskonferenz an diesem Thema dran, und der Papst will jetzt ja erst einmal wissen, wie es darum in der Kirche steht. Die entsprechenden Fragen habe ich sofort an die Gemeinden weitergegeben. Das Ganze ist eine Vorbereitung für die Weltbischofssynode. Ich werde dafür sorgen, dass das, was gesagt wird, weitergeleitet wird. Und ich sorge dafür, dass die Angaben nicht verwässert werden. Es ist mir ein Anliegen, der Frage nachzugehen, ob es nicht auch andere Möglichkeiten gibt.

Protestanten wird die Kommunion verweigert, Katholiken dürfen nicht zum Abendmahl gehen. Muss sich da nicht was ändern?

Thissen: Ich suche auch mit anderen Mitbrüdern in der Bischofskonferenz sehr nach Wegen, wie wir das ändern können. Aber es muss ein Weg sein, der die evangelische Kirche nicht vereinnahmt. Denn jede Heilige Messe können wir nur in Gemeinschaft mit dem Papst und dem Bischof feiern.

Kommen aus Rom nicht deutliche Signale, die Veränderungen wahrscheinlich machen?

Thissen: Da muss ich Sie enttäuschen, es kommen aus Rom leider beide Signale wie auch in der Bischofskonferenz. Deshalb weiß ich nicht, ob wir da einen Weg finden, aber das bedrückt mich sehr, zumal wir im Norden Ökumene so gut leben. Wer einem evangelischen Christen den Zugang zur Eucharistie verwehrt, hat gute theologische Gründe. Aber es gibt auch für die gegenteilige Ansicht gute theologische Gründe.

Der Papst ist doch der Einzige, der da ein Machtwort sprechen könnte.

Thissen: Der Papst macht keine „Basta“-Politik. Er versteht sich in der Kollegialität des gesamten Episkopats. In den letzten 200 Jahren hat kaum ein Papst eine Entscheidung gegen den Willen der Mehrheit getroffen.

Aber der Papst steht für Bescheidenheit und Zurückhaltung. Welche Signale kommen da denn in Hamburg an?

Thissen: Einfachheit, Sinn für Arme, das kommt in Hamburg gut an. Das wird auch Konsequenzen haben.

Hat das aktuelle Papier der evangelischen Kirche zu Ehe und Familie die Ökumene erschwert?

Thissen: Ich war froh, dass auch aus der evangelischen Kirche Stimmen kamen, die das noch nicht für der Weisheit letzten Schluss halten. Ich sehe nicht, dass dadurch unser Verhältnis getrübt ist. Unser Miteinander ist sehr stabil.

Woran liegt das?

Thissen: Das ist hier in Hamburg gute Tradition. Als Kirchen hier in Hamburg und in Mecklenburg sind wir so in der Minderheit, dass es kurios wäre, wenn wir uns auch noch separieren würden. Zur Ökumene sagt der Papst wörtlich: „Vereint in den Unterschieden vorangehen, es gibt keinen anderen Weg, um eins zu werden.“ Das ist zuversichtlich, aber auch realistisch.

Erfüllt Sie der Bedeutungsverlust der christlichen Religionen mit Sorge?

Thissen: Das Christentum wird stärker, jedenfalls weltweit gesehen. Da wächst auch die katholische Kirche. Aber in Deutschland haben wir Sorgen. Da tröstet mich auch nicht, dass wir hier im Norden trotz zu hoher Austrittszahlen in der Gesamtbilanz gut dastehen.

Warum engagiert sich die katholische Kirche in Hamburg weniger stark für Flüchtlinge aus Lampedusa als die evangelische Kirche?

Thissen: Die Wahrnehmung ist richtig. Aber insgesamt arbeiten die evangelischen und katholischen Dienste eng zusammen.

Der Papst hat die Pfarrer in Rom aufgefordert, sie sollen den Flüchtlingen ihre Räume öffnen. Wenn Flüchtlinge bei Ihnen vor der Tür stünden, würden Sie die aufnehmen?

Thissen: Ich würde ihnen helfen, so gut ich kann. Das braucht der Papst nicht zu sagen, das sagt schon das Evangelium.

Politisch wird ein Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde diskutiert. In der Kirche arbeiten Tausende ehrenamtlich, etwa die Diakone mit Zivilberuf, die Amtshandlungen wie Taufen und Beerdigungen vornehmen, aber nicht bezahlt werden. Ist das nicht Ausbeutung?

Thissen: Das ist eine typisch deutsche Frage. Die meisten Ortskirchen in der Welt leben mehr vom Ehrenamt als vom Hauptamt. Das ist bei uns aus historischen Gründen anders, aber in den neuen Pastoralen Räumen ist es wichtiger denn je, dass viele ehrenamtlich mitarbeiten. Wir werden in Zukunft nicht an jedem Kirchenstandort einen Hauptamtlichen haben.

Bekommen Sie im kommenden Jahr eine Rente?

Thissen: Priester und Bischöfe haben nicht mal einen Arbeitsvertrag. Aber ich werde gut versorgt sein und bekomme, ähnlich wie Lehrer, etwa 75 Prozent meines letzten Einkommens.

Was haben Sie sich für den Ruhestand vorgenommen?

Thissen: Ich habe in knapp 60 Jahren immer wieder aufgeschrieben, wenn ich mich kritisch gefragt habe, ob wir als Kirche die Botschaft glaubwürdig überbringen. Ich habe mir verboten, in diesem Stapel von Heften zu lesen, weil ich nach vorne und nicht zurück blicken wollte. Ich will das im Ruhestand alles mal lesen und bin neugierig darauf und gespannt.

Glauben Sie, dass es in Zukunft geeignete Bischöfe gibt vor dem Hintergrund des Priestermangels?

Thissen: Da mache ich mir keine Sorgen.