Die große Flut kommt fast unbemerkt. Viele Hamburger müssen in dieser kalten Nacht im Februar 1962 um ihr Leben kämpfen – wie Familie Pflug im Maakenwerder Grund.

Noch kurz vor dem Einschlafen denkt Reinhard Pflug an den neuen Kühlschrank, der drüben in der Küche leise vor sich hin schnurrt. Man kann es sich auch auf engem Raum gemütlich machen. Erst gestern ist das gute Stück von Neckermann geliefert worden, gemeinsam mit seinem Freund Karl hat er ihn in die Laube geschleppt und in der Einbauküche am vorgesehenen Platz angeschlossen. Ingrid ist glücklich, denkt er in dieser stürmischen Februarnacht. Nach dem Abendessen haben sie noch mit Reinhard junior und der Tochter Katrin „Mensch ärgere dich nicht“ gespielt. Dabei hat sich der Vater das eine oder andere Schnäpschen genehmigt. Draußen heult der Wind. Hoffentlich lässt der Sturm bald nach, denkt Reinhard, als er schließlich einschläft.

Kurz nach Mitternacht wird er wach. Ingrid ist unruhig, kann offenbar nicht schlafen. „Was ist denn nur? Wieso schläfst du denn nicht?“, fragt er seine Frau. „Weil es irgendwo brennt“, sagt sie. Dann hört auch er die Sirenen. Aber das beunruhigt ihn nicht, die Feuerwehr ist ja offenbar zur Stelle und wird den Brand schon löschen. Jetzt, da er wach ist, muss er zur Toilette. Kein schöner Gedanke, bei dem Sturm durch die Kälte hinüber zum Toilettenhäuschen zu laufen. Als er das Bett verlässt, tritt er in etwas Nasses. „Ingrid, hier ist irgendwas umgekippt. Der Fußboden ist nass.“ Er schaltet die Nachttischlampe ein und ist auf einmal hellwach. Im trüben Licht sieht er, wie schmutziges Wasser aus den Fußbodenritzen dringt. Er starrt auf die Dielenbretter, die er selbst verlegt hat und aus deren Fugen eine bräunliche Brühe quillt.

„Du musst sofort die Kinder wecken“, sagt Ingrid, die auch auf den Fußboden starrt. „Wenn das von der Elbe kommt, dann läuft der Deich über“, sagt Reinhard, dem das Wasser schon bis an die Knöchel reicht. Schnell geht er rüber, weckt Reinhard junior und Karin. Die Kinder sind schlaftrunken und verstehen nicht, worum es überhaupt geht. Da ist Wasser, wo es nicht hingehört. Mitten in der Wohnküche steigt die braune Brühe immer weiter an. „Wir müssen hoch aufs Dach. Zieht schnell was Warmes an, draußen ist es elend kalt. Aber macht schnell“, sagt Reinhard, der auf den nagelneuen Kühlschrank schaut, der längst unter Wasser steht. „Aber wenigstens die Musiktruhe müssen wir retten“, sagt er, schiebt die Stühle zusammen, stellt sie auf den Küchentisch und wuchtet gemeinsam mit Ingrid das wertvolle Möbelstück darauf. Dann wird es aber Zeit, Ingrid packt die wichtigsten Papiere zusammen und sucht schnell noch ein paar warme Sachen und Decken, die sie oben vor Sturm und Kälte schützen sollen. Dann müssen sie das Haus verlassen. „Komm schnell her“, sagt Reinhard zu seinem Sohn, nimmt ihn auf den Arm, drückt die Küchentür auf und steht kurz darauf im Freien. Ingrid trägt Karin und läuft dicht hinter ihrem Mann. Sie müssen sich gegen die Strömung stemmen, glücklicherweise hat Reinhard die Gartenleiter zuvor an der Regenrinne der Laube mit Draht befestigt. Jetzt klettern sie nacheinander aufs Dach.

Aber was ist das für ein Anblick! Der ganze Kleingartenverein Köhlbrand ist überschwemmt, und das Wasser steigt weiter. „Was ist mit den Leuten da unten im Grund?“, fragt Ingrid, die sich nicht vorstellen mag, was in diesen Momenten mit den Nachbarn geschieht, die im Maakenwerder Grund wohnen. Haben sie noch eine Chance? Leben sie überhaupt noch, konnten sie sich in letzter Minute irgendwie in Sicherheit bringen? Reinhard denkt an seinen Freund Karl Schwendler, der erst gestern beim Ausladen des neuen Kühlschranks geholfen hat. Der wohnt mit seiner Familie da unten. Und der kleine Holger ist noch kein halbes Jahr alt. „Was ist mit den Kaninchen? Müssen die jetzt sterben?“, fragt Reinhard junior. Die hat der Vater in der Aufregung glatt vergessen. Aber der Flut preisgeben wird er sie nicht. „Du bist verrückt“, sagt Ingrid und schüttelt den Kopf, aber Reinhard steigt schon nach unten. „Einer von euch muss an den Rand kommen und mir die Käfige abnehmen“, sagt er. Die Strömung ist stark, er muss höllisch aufpassen, nicht weggerissen zu werden. Zum Glück stehen die Ställe dicht an der Laube, aber hochstemmen kann er sie nicht, denn sie sind fest verschraubt. Also öffnet er die Türen und greift nach den Tieren, geht hinüber zur Leiter und reicht sie Ingrid eins nach dem anderen nach oben. Dann endlich kommt er selbst wieder hoch, und jetzt erst stellt er fest, wie sehr ihm Kälte, Nässe und Sturm zusetzen. Aber die Kinder sind ganz begeistert. Der Sturm ist gnadenlos, mit seinem Eishauch kriecht er unter die Kleider, der Regen vermischt sich in den frühen Morgenstunden auch noch mit Graupelkörnern, die schmerzhaft ins Gesicht schneiden. Die Pflugs sitzen in der Dunkelheit dicht beisammen, bis endlich Hilfe kommt.

Den Krögers nebenan geht es besser. Sie haben nicht nur ein festes Fundament, sondern auch ein aufgestocktes und ausgebautes Dachgeschoss, das hoch über dem Wasser liegt. Die sitzen im Trockenen und sind außer Gefahr. Ausgerechnet die Krögers, mit denen sich Reinhard und Ingrid Pflug noch nie besonders gut verstanden haben. Reinhard blickt hinüber auf das Haus, das wie ein Fels in der Brandung zu stehen scheint. Verwundert sieht er, wie das Dachfenster geöffnet wird und der Kopf des Nachbarn dort erscheint.

„Hallo, Herr Pflug, können Sie mich hören?“, schreit er gegen den Wind an: „Sie können zu uns herüberkommen. Bei uns ist unterm Dach noch genug Platz.“ „Würden wir gern, aber wie? Wir kommen doch nicht rüber“, schreit Reinhard zurück, der genau weiß, dass sich mit seiner Leiter der Abstand zwischen den Häusern nicht überbrücken lassen würde. „Ich habe eine Leiter, die drei Meter lang ist. Das könnte gerade reichen“, ruft der Nachbar. Kurz darauf wirft Kröger eine Wäscheleine aufs Dach, die Reinhard auffängt. Am anderen Ende hat er die Leiter befestigt, sodass die Pflugs das eine Ende zu sich herüberziehen können. Es ist knapp, aber es reicht. Die Leiter bildet eine waagerechte, wenn auch ziemlich wackelige Verbindung zwischen den beiden Lauben. „Kommen Sie doch endlich“, ruft Kröger, aber Ingrid traut sich nicht, über den Abgrund zu kriechen. „Ich geh zuerst. Ich kann das gut“, sagt Reinhard junior, der behände über die Leiter klettert und schon bald darauf Krögers Dachfenster erreicht hat. Die Schwester schafft es auch. Schließlich fasst sich auch Ingrid ein Herz und klettert zu ihren Kindern hinüber. Und als Reinhard Pflug als Letzter über die Leiter kriecht, wird ihm beim Blick nach unten ganz bang. Noch nie sind ihm drei Meter so weit vorgekommen. „Willkommen“, sagt der Nachbar, und Reinhardt bedankt sich, auch für die Hose, das Hemd und den trockenen Pullover, den Frau Kröger ihm reicht.

Am Morgen ist das Wasser dann plötzlich verschwunden. Im frühen Tageslicht sieht Reinhard, wie seine zwölf Kaninchen munter auf dem Dach hoppeln. Von außen scheint seine Laube die Flut gut überstanden zu haben. Als er aber die Tür öffnet, sieht er den Schlamm und Lachen einer stinkenden Brühe. Die Möbel sind unbrauchbar, die gute Küche ist hin, der neue Kühlschrank sowieso. Aber die Musiktruhe, die sie in letzter Minute noch auf Tisch und Stühle gehievt hatten, ist unversehrt geblieben. Karl Schwendler überlebte die Hamburger Sturmflut im Februar 1962, doch seine Frau und sein neugeborener Sohn Holger gehören zu den 315 Todesopfern. Die Familie Pflug hat die Katastrophe gut überstanden. Sie erhält eine großzügige Unterstützung „für die Wiederbeschaffung von Hausrat und Bekleidung“, viel mehr, als Reinhard erwartet und gehofft hat. Reinhard und Ingrid leben heute als Ruheständler in Hamburg. Die Kinder Reinhard junior und Karin sind berufstätig und wohnen auch in Hamburg.

Video: Fragen zur hamburgischen Geschichte www.abendblatt.de/historisch

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