Pilgern ist populär. Dieses Jahr gehen etwa eine halbe Million Menschen den Jakobsweg in Spanien. Der Christ und Journalist Franz Alt, seine Frau Bigi und der Hamburger Pastor Bernd Lohse waren in Norwegen auf Olavs Spuren unterwegs. Sie hörten Bäume sprechen, Wasser singen und den Wind flüstern.

Am Anfang stand der Zweifel. Pilgern, heißt das nicht: Morgengebet, Mittagsandacht und Abendmahl? Übernachten in alten Bauernhöfen, Jugendherbergen und auf dem Matratzenlager? Unterwegs bei jedem Wetter mit Rucksack und Schlafsack? Und 25 Kilometer gehen pro Tag? Soll ich mir das mit 72 noch antun? Und: Was wollte ich als Pazifist eigentlich auf dem Weg dieses seltsamen heiligen Olav, der Norwegen vor 1000 Jahren mit Gewalt einte und christianisierte?

Meine Frau Bigi und ich waren zuvor noch nie pilgern. Schon eines der ersten Gebete unseres Hamburger Pilgerpastors Bernd Lohse im glasüberdachten Dom in Hamar hat uns jedoch tief berührt: „Wenn wir uns nun aufmachen und uns geborgen wissen in Gottes Händen und hinaus ziehen in unbekannte Gebiete, wollen wir uns erinnern an Gottes Verheißungen, die für die ganze Reise unseres Lebens gelten.“

Ja, pilgern, so lernten wir rasch, ist mehr als wandern. Pilgern entschleunigt unseren hektischen Lebensstil. Die Rituale des Gehens, Schweigens, Betens, Meditierens, Singens, der Einfachheit, der Gemeinschaft, tun nicht nur dem Körper, sondern vor allem der Seele gut.

Beim Pilgern wurde unsere Gruppe Zeuge vieler kleiner „Wunder“ am Wegesrand: In der norwegischen klaren Luft gedeihen Moose und Flechten besonders üppig: eine Symphonie in Grün, Gelb und Rotbraun. Wir erlebten die „Wunder“ des Weges von Tag zu Tag intensiver. Beim Schweigen hörten wir Bäume sprechen, Wasser singen und den Wind flüstern.

Und plötzlich verstanden wir, warum der heilige Franziskus vor 800 Jahren von unserer Mutter Erde, unserer Schwester Sonne und unseren Geschwistern, den Pflanzen und Tieren, sprach. Auch er hatte diese tiefe Verbundenheit mit allem Leben nicht in der Gelehrtenstube, sondern in Gottes freier Natur erlebt so wie Albert Schweitzer seine Ehrfurcht vor allem Leben im afrikanischen Busch.

Einen stärkeren Gottesbeweis als Gottes Schöpfung gibt es nicht. Die indischen Upanischaden wissen: „Gott schläft in Steinen, träumt in Tieren, atmet in Pflanzen und erwacht in Menschen.“ Die Natur ist die Heimat jeder Kultur. Wie spannend könnte eine Kirche sein, die diese alten Weisheiten wiederentdeckt.

Pilgern verändert jeden und jede! Danach lebst du bewusster und achtsamer. Du läufst in fremden Landschaften bei jedem Wetter und bist in Wahrheit auf dem Weg zu dir selbst, zu deinem Selbst. Und wir erfuhren, du kannst mehr als du denkst!

Unser Ziel hieß Trondheim, Norwegens drittgrößte Stadt. Das Jerusalem des Nordens. Im Nidaros-Dom liegt König Olav begraben. Olav starb 1030 in der Schlacht bei Stiklestad. Doch nach seinem Tod passierten viele Wunder an seinem Grab, die auch seine Gegner zum Christentum bekehren ließen. Schon 1031 wurde er heiliggesprochen. Gottes Wege sind eben unerforschlich. Die Wundergeschichten um Olav werden bis heute erzählt. Er ist ein Volksheiliger, Ur-König der Norweger. Im Mittelalter wurde er in ganz Europa verehrt. Erst durch die Reformation wurde das Pilgern im protestantischen Skandinavien verboten. Doch heute pilgern auch Protestanten.

Wir, Katholiken, Protestanten und Atheisten, meditierten auf unserem Weg über sieben Schlüsselworte olavscher Spiritualität: Kraftfülle. Entschlossenheit. Lebensmut. Dienst. Hellhörigkeit. Versöhnung. Heiligung. Eher Ausdruck männlicher Spiritualität. Deshalb verband unser Pastor jedes dieser Schüsselworte mit einem Kennzeichen weiblicher Spiritualität der heiligen Birgitta von Schweden: Langsamkeit. Freiheit. Einfachheit. Sorglosigkeit. Stille. Gemeinschaft. Geistlichkeit.

Gemeinsam pilgern kann ein kraftvolles Partnerschafts- und Liebesritual werden. Im Alltag hasten wir – beim Pilgern verschmelzen Seele und Geist, Körper und Natur, Schöpfer und Schöpfung zu einer gefühlten Einheit. Und bei besonders starken Augenblicken wie bei unserer Ankunft in Trondheim oder beim gemeinsamen Abendmahl in der von Kerzen beleuchteten Marienkapelle im Dom oder beim Wassersegen durch unseren Pilgerpastor beim Überqueren eines Flusses wurde dieses Gefühl zu einem unbeschreiblichen Glücksgefühl.

Es kann geschehen, dass unterwegs bei Sonne oder Regen, bei Wind und Wetter, die Seele genährt wird: Beim Schweigen oder Beten, beim Singen oder Gehen, bei Gesprächen oder bei der Feier des Abendmahls und beim Lesen alter Glaubensgeschichten in der Bibel. Und es kann passieren, dass auch kirchenferne Menschen anfangen, religiöse Lieder zu singen. Pilgern schafft Raum für die Begegnung mit Gott. Die Natur hat die Kraft zu heilen und zu helfen. Wandern und Wandlung haben in unserer Sprache dieselbe Wurzel. Wer wandert, wandelt sich mit jedem Schritt.

Pilgern ist populär geworden. Da entsteht eine neue Graswurzelbewegung, eine „Out-Door“-Theologie und eine Elementarreligion wie sie in allen Kulturen überlebt hat: Bei den Maoris in Neuseeland, den Aborigines in Australien, den Indianern in beiden Amerikas und bei den Schamanen in Sibirien. Bei den Taoisten in Ostasien führt der „Weg des Maßes“ (Tao) in andere Dimensionen. Die Beduinen sagen: „In der Wüste findest du nichts außer dich selbst. Denn die Wege der Weisheit führen durch die Wüste.“ Gemeinsam ist das Wissen, dass Gott sich in seiner Schöpfung manifestiert.

Albert Schweitzer nennt dasselbe Empfinden von Religion: „Ehrfurcht vor allem Leben.“ Was hat die Welt heute nötiger als diese Überlebenshilfe durch die alten religiösen Weisheiten. Nur solche Kulturen werden eine Überlebenschance haben, welche die Natur als ihre Basis anerkennen.

Pilgern ist in allen Kulturen schon seit Jahrtausenden eine wichtige Erfahrung spirituellen Lebens. Pilgerwege sind schon lange auch europäische Wege. Hier entstand im Mittelalter die Idee eines friedlich vereinten Europas. Jerusalem, Rom, Santiago de Compostela und in Norwegen der lange vergessene und in den letzten Jahren wiederentdeckte Olavsweg sind die klassischen christlichen Pilgerwege, während Muslime nach Mekka pilgern und Hindus zum Ganges reisen. Und heute entsteht wieder eine neue Pilgerkultur. Der Europarat hat während unserer Pilgerwanderung den alten Olavsweg dem Jakobsweg als „Europäischen Pilgerweg“ gleichgestellt.

Zu Jesu Zeiten wanderten die Jünger und Jüngerinnen mit ihrem Meister durch Obergaliläa: Das war schon damals keine Flucht vor der Wirklichkeit, sondern das Erleben einer tieferen Wirklichkeit. Wege (großgeschrieben) und weg (kleingeschrieben wie „Ich bin dann mal weg“) sind dasselbe Wort. In Europa sollen im Mittelalter 30 Prozent der Christen bei Wallfahrten unterwegs gewesen sein.

Der Olavsweg, der von Oslo nach Trondheim führt, wurde uns zum Übungsweg für Achtsamkeit. Pilgern lehrte uns, heilige Räume zu sehen – am Himmel und in den Bergen, beim Anblick von Kiefern- oder Urwäldern, beim Sonnenuntergang und -aufgang. Du entdeckst die Schönheit im Kleinen und wirst offen für das Unerwartete – auch im Gespräch mit den anderen.

Pilgern ist in Norwegen inzwischen wieder so populär, dass auch das Kronprinzessenpaar Mette-Marit und Haakon zu gleicher Zeit wie wir auf dem Olavsweg pilgerten und mit uns im Dom die Olavsmesse feierten. Hier werden sie einmal zu Königin und König gekrönt werden.

Wir, fünf Frauen und zehn Männer, wurden Freunde. Es verbindet uns jetzt ein großes Ziel: die Suche nach Gott.

Die Kirche wird wieder eine pilgernde, fragende und suchende oder es wird keine Kirche mehr geben. Pilgern lehrt das Staunen, die Verzauberung und das Abenteuer, die Welt wieder neu zu sehen. Auf diesem 1000 Jahre alten Olavsweg haben wir die Natur Mittelnorwegens als grüne Kathedrale Gottes erfahren dürfen. Sie zeigt uns auf einmalige Weise die Schönheit des Schöpfers und die Wunder des Lebens.

Was vor uns und was hinter uns liegt sind Winzigkeiten im Vergleich zu dem, was in uns ist. Pilger pilgern nicht, um Neues zu erleben, sondern um neu zu werden. Pilgern, so meinen wir heute, hat eine große Zukunft. Pilgern ist ein Weg nach Hause, zum Ursprünglichen, zu den Wurzeln, zu sich selbst, zu meinem Selbst. Ein Weg nach innen. Vielleicht auch ein Weg zur ewigen Heimat.

Am Ende ist Dankbarkeit.

Infos über die nächsten Pilgertouren auf dem Olavsweg 2014: www.olavsweg.deFranz Alt - www.sonnenseite.com