Der steile Aufstieg am ersten Tag ist die Hölle. Am dritten sind die Fersen wund. Doch die innere Stimme befiehlt: weiter! Man lauscht dem Klang der Natur, kann Frieden finden mit sich und der Welt, hat Abendblatt-Redakteurin Rebecca Kresse auf ihrem sechswöchigen Marsch notiert.

Ruhe! Es ist unglaublich, wie schnell man sich daran gewöhnt, nicht mehr die Geräusche der Großstadt und des modernen Lebens zu hören. Keine Autos, keine Musik, keine Menschen. Plötzlich gibt es nur noch den Klang der Natur und der eigenen Stimme im Kopf. Die Seele atmet auf, wenn früh morgens beim Berganstieg die ersten Sonnenstrahlen über den Gipfel scheinen, die teils noch schneebedeckten Spitzen auf der anderen Seite glitzern und die mit lilafarbenen Pflanzen bewachsenen Hänge zu leuchten beginnen, wenn man von einem Froschkonzert begrüßt oder vom Plätschern eines Wasserlaufs den ganzen Tag begleitet wird.

Vermutlich ist es genau das – die Vorstellung von solcher Ruhe –, das so viele Menschen auf den Jakobsweg treibt. Weil sie die Fähigkeit verloren haben, sich im Alltag Inseln der Ruhe zu schaffen, auf sich und auf die Natur zu hören. Einfach mal Frieden finden mit sich und der Welt! Und es ist möglich. Es gibt ihn, diesen besonderen Geist des Jakobsweges, der einen nachhaltig verändern kann. Nach sechs Wochen und 800 Kilometern auf dem Camino Francés bin ich mir ganz sicher.

Von St. Jean Pied de Port nach Roncesvalles, 27 km

Eine Weggabelung in der kleinen, mittelalterlichen Stadt St. Jean Pied de Port in Frankreich. Hier beginnt meine Pilgerreise. Einen Moment noch halte ich inne. Zehn Monate Vorbereitungen liegen hinter mir. Und vor mir liegt der Marsch von St. Jean Pied de Port in Frankreich am Fuß der Pyrenäen bis nach Santiago de Compostela nahe der spanischen Atlantikküste. Zu Fuß; nur mit einem Rucksack, der das Nötigste enthält. Seit Jahren schon geistert mir dieser Weg im Kopf herum, den vor mir schon Millionen Menschen gegangen sind – religiöse Pilger genauso wie Abenteurer, Aussteiger und sportlich ambitionierte Wanderer. Lange bevor Hape Kerkeling ihn mit seinem Buch „Ich bin dann mal weg“ berühmt gemacht hat, wurde der Jakobsweg für mich zu einem dieser Dinge, von denen man sich immer wieder sagt: „Das möchte ich irgendwann mal machen.“ Irgendwann ist jetzt!

Wegen dieser ersten Etappe hatte ich ehrlich gesagt die Hosen voll. Noch gestern Abend habe ich mich immer wieder gefragt: „Wie soll ich das bloß schaffen?“ Fünf Stunden steil bergauf, bei zwölf Prozent Steigung, mit einem zehn Kilo schweren Rucksack auf dem Rücken. Die Wanderführer werden nicht grundlos von einem „Schwergewicht“ am Anfang der Tour sprechen ...

Doch an diesem Sonnabendmorgen um sieben Uhr ist die Angst verflogen. Das Wetter ist gut – das erste Mal seit Wochen –, und ich gehe die ersten Schritte auf dem Jakobsweg. Eine kleine asphaltierte Straße führt steil nach oben. Links liegen grüne Weiden, am Horizont die Pyrenäen. Während es langsam heller wird und die Sonne sich durch den Nebel kämpft, lasse ich die letzten Häuser von St. Jean hinter mir. Diese ersten Meter sind das pure Glücksgefühl. Endlich unterwegs!

Vor und hinter mir laufen viele andere Pilger von überall aus der Welt. Ich höre so viele verschiedene Sprachen, und mir wird schnell klar: Auch wenn man allein läuft, wirklich allein ist man auf dem Jakobsweg nie. Irgendwie auch beruhigend. Wir alle sind Pilger, und das verbindet.

Ein letzter Blick zurück auf die Port d’Espangne, das Tor, durch das jeder Pilger hindurchmuss, der von St. Jean aus startet. Dann habe ich rasch meinen Rhythmus gefunden. Ich höre nur noch den Klang der Natur. Mein Geräusch dieses ersten Tages ist das Läuten von schweren Kuhglocken, das von den grasenden Herden an den Berghängen herüberschallt.

Nach eineinhalb Stunden – ich habe gerade die Häuseransiedlung Hunto erreicht – macht sich plötzlich mein Fuß, genauer gesagt meine linke Ferse bemerkbar. Dabei habe ich die Schuhe doch schon vor Monaten gekauft und den ganzen Winter über eingelaufen. Um kein Risiko einzugehen, ziehe ich sie lieber aus und klebe ein Blasenpflaster auf beide Fersen. Die sind schon deutlich gerötet und links sogar leicht aufgerissen. Das fängt ja gut an!

Es geht immer weiter nach oben. Vom Bergpanorama kann ich leider nichts mehr erkennen. Und auch das Tal unter mir verschwindet in einer Nebeldecke. Mit jedem Kilometer wird mir klarer, warum die Bücher vor dieser Etappe warnen. Sie ist hart. Und ich bin so froh, dass ich meine beiden Teleskop-Wanderstöcke habe. Ohne die würde ich an einigen Stellen keinen Meter vorankommen. Immer häufiger meldet sich der Gedanke: „Jetzt reicht’s, ich kann nicht mehr.“ Das interessiert hier oben auf fast 1400 Metern aber niemanden. Da zählt nur noch dies: „Einen Schritt und noch einen Schritt und dann noch einen Schritt ...“ Wie ein Mantra denke ich diese Worte vor mich hin, pushe mich damit über die nächste Anhöhe.

Und ich bin nicht die Einzige, die sich quält. Auch bei anderen Pilgern ist die anfängliche Euphorie der schmerzhaften Realität gewichen. Da ist zum Beispiel Anni aus Wichita in Kanada, die mit ihrer Schwester Jane pilgert. Oder Jordana aus London. An diesem Tag sind erstaunlich viele Menschen aus Kanada, Australien, Neuseeland und Amerika auf dem Weg. Und schnell habe ich einen Spitznamen von ihnen bekommen: „Monkey-Girl“. Der Grund dafür heißt Karl. Mein kleiner Stoffaffe sitzt für alle gut sichtbar in meinem Rucksack. Kurz hinter der berühmten Rolandsquelle kommen Jordana und ich ins Gespräch. Sie mag meinen Affen und erzählt, dass einige Pilger hinter mir kaum noch weiterlaufen konnten. Ihr Mantra, um den Weg zu schaffen, war wohl: „Just concentrate on the monkey.“ So schnell wird man berühmt in dieser Einöde.

Ich laufe an Schneefeldern vorbei, überquere die Grenze zu Spanien und beginne den Abstieg durch einen Wald. Die letzten fünf Kilometer werden erst recht zur Qual. Der Weg will und will nicht enden. Ich kann einfach nicht mehr. Aber ich muss, das weiß ich. Dann, irgendwann nach einer Kurve, sehe ich unter mir im Tal das Kloster von Roncesvalles. Ziel meiner heutigen Etappe. „Halleluja“, denke ich, muss aber noch einmal eine Pause machen.

Mein Zustand beim Eintreffen in der neuen und schönen Herberge ist erbärmlich. Ich bin klitschnass bis auf die Haut, dreckig und bis zu den Knien mit Matsch bespritzt und vollkommen erschöpft. Alles, was jetzt noch geht, ist, mir meine Duschsachen zu schnappen und mich in die Warteschlange im Waschraum einzureihen. Erst das heiße Wasser der Dusche bringt langsam meine Lebensgeister zurück.

Dann muss ich mich noch um meine Wäsche kümmern. Im Kloster gibt es zwei Optionen: entweder per Hand selbst waschen oder – was für ein Luxus! – den Service der ehrenamtlichen Helfer in Anspruch nehmen. Für gerade mal 2,50 Euro bekommt man seine Sachen abends gewaschen, getrocknet und wohlriechend aufs Bett gelegt.

Nach einem Pilgermenü (Gemüsesuppe, Pommes, Fisch, Fertigpudding, dazu Wasser und Wein – für zehn Euro) und in Gesellschaft von vielen anderen Pilgern ist die Euphorie zurück. Ganz langsam sickert es in mein Hirn: Ich, Rebecca Kresse, 35 Jahre alt, körperlich nicht in der besten Form meines Lebens, habe zu Fuß die Pyrenäen überquert!!! Ich habe es wirklich getan.

Von Zubiri nach Pamplona, 21,1 km

Ich bin unterwegs nach Pamplona, jene Stadt, die für die Stierhatz berühmt und berüchtigt ist. Sie ist die erste der fünf Königsstädte am Rande des Camino Francés. Der Weg führt durch einen schönen Wald. Es ist sehr früh am Morgen, und meine Gedanken gehen noch einmal zurück zum Vortag. Gestern, auf der Etappe von Roncesvalles nach Zubiri, habe ich drei Dinge gelernt.

Erstens: Lass dich nicht von Schildern in die Irre führen. 3,4 Kilometer bedeuten nicht unbedingt, dass das letzte Teilstück einer Etappe kurz und einfach sein wird. Manchmal fängt dann erst die Hölle an.

Zweitens: Es ist gut und wichtig, dass man sich im Leben auf etwas (oder jemanden) stützen kann, dass man einen Teil seiner Last abgeben kann. In meinem Fall stütze ich mich auf zwei Wanderstöcke, wodurch die Arme einen Teil der Last für die Beine übernehmen können.

Und Drittens: Es gibt noch wahre Helden! Wie Daniel aus Neuseeland, der gemeinsam mit seiner Freundin Rachel pilgert. Um einer 80-Jährigen (!) den unglaublich schweren Abstieg nach Zubiri zu erleichtern, hat Daniel sich einfach den Rucksack der ihm bis dahin fremden Frau geschnappt und auf seine Brust geschnallt. Ich selbst hätte auf dieser Etappe nicht ein zusätzliches Gramm tragen können. Und Daniel? Der trägt zwei dieser Rucksäcke und kann sich dabei sogar noch lächelnd unterhalten. Das Geräusch des Tages war auf dem Weg nach Zubiri übrigens Wasserplätschern. Den ganzen Tag verliefen kleine Bäche, Rinnsale, Flüsschen parallel zum Weg. Ein wunderschöner Klang. Es ist unglaublich, wie viele Geräusche man wahrnimmt, wenn man zu Fuß unterwegs ist.

Apropos Füße: Meinen geht es an diesem dritten Tag nicht gut. An den Fersen klaffen rechts und links tiefe Löcher – so groß wie Zwei-Euro-Münzen. Ich habe notdürftig versucht, sie mit Verbandszeug abzudecken. Aber es tut höllisch weh, und die Wanderschuhe reiben weiter daran. Überhaupt komme ich mir auf dieser Etappe ziemlich jämmerlich vor. Im Reiseführer steht, die Tour nach Pamplona sei etwas leichter als die vorherigen. Auch einige Pilger haben mir das erzählt. Die würde ich jetzt am liebsten anschreien. Denn immer, wenn ich gerade aufatme – „jetzt wird es besser, so könnte es jetzt weitergehen, so sind die letzten Kilometer gut zu schaffen“ –, lacht mir die böse Fratze des Jakobsweges ins Gesicht. Nach wenigen Hundert Metern angenehmer Strecke steht plötzlich wieder ein Berg vor mir. 40 Stufen führen hinauf, und die entsprechen nicht deutscher Norm, sondern sind schief und krumm an den Berg gelegt. Jede einzelne ist eine Herausforderung. Ich frage mich die ganze Zeit, ob es den anderen Pilgern auch so geht. Oder bin etwa nur ich so quengelig?

In der Herberge in Pamplona, einer alten Kirche mitten in der Stadt, sind etwa 100 Pilger untergebracht. Das Kirchengewölbe ist noch gut zu erkennen. Und hier treffe ich viele bekannte Gesichter wieder. Anni und ihre Schwester Jane aus Kanada schlafen hier, auch Jordana aus London. Gemeinsam mit weiteren Pilgern verbringen wir einen wunderschönen Abend in einer spanischen Tapasbar – und schon ist die Moral wieder gestiegen. Auch das ist Teil des Jakobsweges.

Von Calzadilla de la Cueza nach Sahagún, 23,1 km

Nach 17 einsamen Kilometern durch die spanische Meseta liegt heute der Weg nach Sahagún vor mir. 23 Kilometer sind es bis in diese nächste größere Stadt. Der Weg soll nicht besonders schwer sein. Für mich geht es heute vor allem darum, recht früh anzukommen und eine gute Unterkunft zu finden, denn am Abend will ich mir in Sahagún das Champions-League-Finale Bayern gegen Dortmund ansehen. Darauf freue ich mich schon seit Wochen.

Der Tag startet grandios. Zum ersten Mal laufe ich bereits um kurz nach sechs Uhr los. Der Vollmond steht noch über den Feldern, die Sonne lässt sich am Horizont bereits erahnen, die Hitze des Tages ist noch nicht zu spüren, und um mich herum klingen nur die Stimmen der Natur. Noch nie habe ich so viel Kuckuck-Rufe, Grillen-Zirpen und Froschquaken gehört wie in Spanien.

Diese ersten Stunden marschiere ich ganz allein meinem nächsten Etappenziel entgegen. Überraschenderweise halten auch die Füße, sodass ich recht zügig vorankomme. „So soll der Camino sein“ – dieser Gedanke geht mir heute oft durch den Kopf. Nach den zum Teil schmerzvollen Tagen zählt dieser Morgen wohl zu meinen Höhepunkten auf dem Jakobsweg.

Unterwegs begegne ich Katja, ebenfalls aus Hamburg; ich kenne sie von früheren Begegnungen auf dem Camino. Ein spontanes, gemeinsames Frühstück in einer kleinen spanischen Bodega macht den Morgen nahezu perfekt. Wir verabreden uns für den Abend in Sahagún. Denn laufen möchten wir beide allein.

Das ist eine Erkenntnis der vielen Etappen: Ich habe ausprobiert, wie es ist, zu zweit, zu dritt oder in einer noch größeren Gruppe zu laufen. Es ist schön, andere Pilger zu treffen, sich auch unterwegs kurz mit ihnen zu unterhalten. Aber laufen, laufen will ich allein. Ich genieße diese Ruhe am Tag. Ich will mich treiben lassen und mich nicht mit anderen absprechen müssen, und vor allem will ich der Natur zuhören.

Das ist oft schon schwierig genug, selbst wenn man allein läuft. Denn immer wieder begegnet man Pilgern, die ihren Alltag mit all seinen Geräuschen mitgebracht haben. Anders als noch vor 20 Jahren klingeln und piepen Handys, und es wird lauthals telefoniert. Haben diese Pilger ein ähnliches Lauftempo wie man selbst, wird man sie während einer Tagesetappe nur schwer wieder los. Entweder man muss sich zurückfallen lassen oder das Tempo erhöhen und an ihnen vorbeiziehen. Vor allem Spanier und Franzosen, die oft in Gruppen von fünf oder mehr Leuten unterwegs sind, reden unaufhörlich. Und zwar so laut, dass man sie meist schon aus einem Kilometer Entfernung hört. Und dann die Musik! Junge Pilgergruppen beschallen mit kleinen Lautsprechern den Weg. Können die eigentlich ohne diese Geräusche, ohne Ablenkung nicht mehr sein? Ertragen die keine Stille mehr? Vielleicht aus Angst, mit sich und ihren Gedanken allein zu sein? Aber geht es nicht genau darum auf einer Pilgerreise?

Mit diesen Gedanken laufe ich recht zügig in Richtung Sahagún. Und passe dabei dummerweise nicht richtig auf. Ich folge anderen Pilgern, die eine Autobahnbrücke unterqueren, ohne auf die so wichtigen gelben Pfeile zu achten. Um der lauten Gruppe mit Musik möglichst schnell zu entgehen, biege ich nach links ab und beschleunige meinen Schritt. Ich laufe parallel zur Autobahn in Richtung Sahagún, und erst nach einigen Hundert Metern fällt mir auf, dass hinter mir kein Pilger mehr ist. Auch vor mir ist niemand, und einen gelben Pfeil, der die richtige Richtung anzeigt, habe ich auch schon lange nicht mehr gesehen. Irgendwann muss ich mir eingestehen, dass ich falsch abgebogen bin. Und auf dem Weg zum richtigen Abzweig passiert mir das gleich noch einmal.

Als ich das erkenne, würde ich am liebsten heulend zu Boden sinken. In unglaublich weiter Entfernung am Horizont sehe ich Sahagún. Statt der geplanten Tagesetappe von 20 Kilometern habe ich jetzt schon rund 30 Kilometer in den Beinen. Jetzt muss ich noch einmal mindestens zehn Kilometer nach Sahagún laufen. Wie soll ich das schaffen?

Nach einer halben Stunde Marsch auf einer Landstraße stoppe ich das erste Auto, das in meine Richtung fährt. Mit meinen wenigen Brocken Spanisch frage ich nach dem richtigen Weg zurück zum Camino. Der Fahrer zeigt es mir. Doch dann deutet er auf den Rücksitz und fragt, ob er mich mitnehmen soll nach Sahagún. Den hat der Himmel geschickt, davon bin ich überzeugt. Und nun fährt mich dieser nette Mensch bis kurz vor die Herberge. Als ich die Geschichte abends beim Fußballgucken erzähle, ist keiner meiner Mitpilger wirklich erstaunt: „Tja, das ist der Camino. Er gibt dir, was du brauchst.“ Wie wahr! Es soll nicht das letzte Mal sein, dass mir auf dem Weg so etwas passiert.

Von Léon über Astorga nach Rabanal del Camino, 68,5 km

Léon markiert für mich die Wende auf dem Camino. Nachdem ich in Santa Domingo de la Calzada drei ärztlich verordnete Ruhetage einlegen musste, mir dort Wandersandalen gekauft, in Burgos meine dicken Wanderschuhe nach Hause geschickt und schließlich nach 400 Kilometern in Carrion de los Condes neue, leichtere Laufschuhe gekauft habe, scheinen meine Füße sich tatsächlich zu erholen. Die Wunden heilen, und damit werden nach 25 Tagen endlich auch die Schmerzen weniger.

Nun sitze ich glücklich in Rabanal del Calmino bei einem Café con Leche (Kaffee mit Milch), der für Pilger zum Grundnahrungsmittel gehört, und blicke auf die vergangenen Tage zurück. In Léon blieb ich nur eine Nacht. Irgendwie habe ich keine Ruhe mehr, länger an einem Ort zu verweilen als nötig. Auch auf große Sightseeing-Touren habe ich keine Lust mehr. Dabei ist Léon wirklich schön. Die alte Königsstadt ist mit Sicherheit einer der Höhepunkte der Reise. Eine gemütliche Altstadt mit kleinen Gassen und schmucken Häusern, dazu die beeindruckende Kathedrale und viele Geschäfte, die zum Bummeln einladen. Eine Sache muss man auf dem Camino aber lernen: Gucken ist erlaubt, kaufen nicht. Jedes Gramm mehr im Rucksack wiegt Kilos. Also müssen Einkäufe – auch Mitbringsel und Souvenirs – bis Santiago de Compostela warten.

Seit Léon macht das Laufen wieder richtig Spaß. Die Füße sind verheilt, die Schmerzen verschwunden. Herrlich. So bin ich auch wieder empfänglicher für meine Umgebung.

Apropos Empfang: Ich gehöre zu den wenigen Pilgern, die kein internetfähiges Handy dabei haben. Erstens sind mir Handy und Ladegerät zu schwer für den Weg, zweitens warnen alle Reiseführer vor Diebstählen, und drittens will ich ja abschalten vom Alltag und nicht erreichbar sein. Ich dachte, so geht pilgern. Die Realität sieht anders aus. Während mich in den Herbergen am meisten interessiert, ob bei den Etagenbetten ein unteres für mich frei ist, fragen die meisten anderen als Erstes: „Gibt es hier Wi-Fi?“ – also die kostenlose Möglichkeit, mobil im Internet zu surfen. Und Wi-Fi gibt es mittlerweile sogar im kleinsten Ort.

Das hat zur Folge, dass viele Pilger während ihrer Pausen oder nach einer Tagesetappe über ihre Smartphones gebeugt sitzen, um ihre neuen Fotos zu posten, Texte ins World Wide Web zu senden, E-Mails zu checken und mit Freunden auf Facebook in Kontakt zu bleiben. Vielleicht bin ich altmodisch, aber für mich wäre das nichts. Ich finde es auf einem Marktplatz schöner, einfach das Leben an mir vorbeiziehen zu lassen oder mich mit anderen Pilgern zu unterhalten, als in ein Smartphone zu starren.

Von Molinaseca nach Ponferrada, 8 km

Seit einigen Tagen genieße ich den Camino in vollen Zügen. Ich laufe ohne Schmerzen, ohne Blasen. Zum ersten Mal auf dem Weg fühle ich mich wie ein richtiger Pilger – und fit dazu. Hinter mir liegt die Bergetappe zum Cruz de Ferro. Dafür bin ich in Rabanal del Camino ganz früh am Morgen losgelaufen. Der Mond stand noch am Himmel, und ich kam sehr schnell voran. Es ist so zauberhaft anzusehen, wie die Sonne langsam über die Gipfel krabbelt und ihre ersten Strahlen auf die schneebedeckten Bergspitzen auf der gegenüberliegenden Seite schickt. Das Strahlen ist auch in mein Gesicht zurückgekehrt. Unter diesen neuen Bedingungen würde ich die ersten 400 Kilometer gerne noch einmal laufen – nur um zu wissen, wie es ist.

Am berühmten Eisenkreuz, dem Cruz de Ferro, legen Pilger seit Jahrhunderten Steine ab. Sie verbinden das mit Wünschen, oder Stein symbolisiert eine Last, deren man sich dort entledigt. Auf jeden Fall gehört das obligatorische Foto am Kreuz mit dazu. Also klettere ich auf den meterhohen Stein rund um das Kreuz und lasse ein Foto von mir machen.

Nach 26,5 Kilometern und einem wirklich anspruchsvollen Abstieg vom Kreuz bis nach Molinaseca laufe ich heute nur noch die acht Kilometer bis nach Ponferrada. Die alte Templerstadt möchte ich mir genauer ansehen, außerdem tut ein Tag Erholung gut. Es ist noch früh, meinen Rucksack stelle ich in eine Schlange vor der Herberge, die erst um 13 Uhr öffnet – so wie es alle überpünktlichen Pilger tun, um nicht selber dort warten zu müssen. Es ist ein herrlicher Tag. Die Sonne strahlt vom hellblauen Himmel, es ist warm und die Stadt ist nett. Ich bestelle auf dem Marktplatz eine Tasse Café con Leche, lege die Füße hoch und fühle mich wie im Urlaub.

Von Sarria nach Portomarin, 21,7 km

Mit der Ruhe ist es auf dem Camino vorbei. Die Touristen-Pilger sind eingefallen. So nenne ich jene, die nur die letzten 100 Kilometer nach Santiago absolvieren, um die begehrte Compostela, die Pilgerurkunde, zu bekommen. Der letzte Einstiegsort dafür ist Sarria. Diese Pilger sind nicht nur zahlreich, sondern auch laut. Meist laufen sie in Gruppen und machen aus der eigentlichen Pilgertour eine Party. Viele Teenager sind unterwegs, die wohl zum Abschluss ihres Schuljahres oder Semesters noch einmal etwas gemeinsam unternehmen wollen. Wären sie doch nach Mallorca gefahren!

Die andere Kategorie Touristen-Pilger sind die, die sich wenig Zeit nehmen und nicht wirklich pilgern. Sie machen aus dem Jakobsweg einen Rennkurs. In unglaublichem Tempo hetzen sie über die Wege, als gäbe es kein Morgen mehr. Ich weiß nicht, ob sie sich oder der Welt beweisen wollen, wie fit sie sind. Vom Weg, der Natur und der Umgebung bekommen sie jedenfalls nicht viel mit.

Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, die letzten 100 Kilometer zu beginnen. Gestern war es genau einen Monat her, dass ich in St. Jean Pied de Port gestartet bin. Ein Monat voller Höhen und Tiefen – und das ist nicht nur topografisch gemeint. Allmählich gilt es, ganz langsam Abschied zu nehmen vom Camino.

Das fällt seit Sarria nicht mehr ganz so schwer, denn mit dem Trubel nimmt auch der Müll auf dem Weg beträchtlich zu. So viele Abfälle wie auf den 26 Kilometern nach Palas del Rei habe ich auf der gesamten Strecke davor nicht gesehen: Plastikflaschen, Tüten, Dosen, Kondomverpackungen, Pullover – sogar ein Zelt war dabei. Von den Unmengen benutzter Taschentücher ganz zu schweigen. Der Anblick macht mich wütend. Wer auf dem Jakobsweg innere Einkehr sucht und die Schönheiten der Natur zu schätzen weiß, der benimmt sich nicht so.

Von Pedrouza Arca nach Santiago de Compostela, 20,3 km

Mein letzter Tag auf dem Camino. Heute Mittag will ich in der Kathedrale von Santiago de Compostela sein, um die Pilgermesse zu erleben. Dafür muss ich besonders früh los, denn zwischen mir und Santiago liegen nicht nur 20 Kilometer, sondern auch noch der Monte Gozo. Ich bin aufgeregt an diesem Morgen. Die Vorfreude, endlich ans Ziel zu kommen, ist unbändig. Irgendwie endet mein Jakobsweg so, wie er vor 38 Tagen in St. Jean Pied de Port begonnen hat – mit einem Berg und mit Nebel. Zwar ist der Monte Gozo nicht mit den Pyrenäen zu vergleichen, trotzdem verlangt der Aufstieg mir noch einmal alles ab.

Der einsetzende Regen kann meine Stimmung nicht trüben. Haben mich in den vergangenen Tagen die Pilgermassen gestört, so freue ich mich heute sogar, nicht allein auf dem Weg zu sein. Mit jedem Kilometer werde ich aufgeregter. Am einem Zaun des Flughafens entdecke ich einen Gruß aus Hamburg: Ein Pilger hat einen Schal vom diesjährigen Kirchentag aufgehängt, darauf das Motto des Kirchentages: „Soviel du brauchst“.

Und dann kommt der Moment, an dem ich die ersten Häuser von Santiago erblicke. Mir schießen Tränen in die Augen. Dass der Tag schon hier so emotional wird, habe ich nicht erwartet. Bis zum Zentrum sind es noch einmal drei Kilometer. Mein Schritt wird schneller wie von einer Sehnsucht getrieben. Und dann erhebt sie sich vor mir: die Kathedrale von Santiago de Compostela. Ich hole meine Urkunde im Pilgerbüro ab, und dann betrete ich die Kirche. Viele Pilger, denen ich auf dem langen Weg begegnet bin, treffe ich hier. Wir fallen uns in die Arme und weinen vor Glück und Erleichterung.

Die Strapazen der vergangenen Wochen fallen von mir ab. Wie sich das anfühlt, kann wohl nur jemand nachvollziehen, der den Weg selber bewältigt hat. Die Pilgermesse ist sehr bewegend. Als am Ende auch noch das Weihrauchgefäß an meterlangen Seilen durch die Kathedrale schwingt, ist das für mich ein würdiger Abschluss für meinen Jakobsweg. Es ist geschafft: Nach ziemlich genau sechs Wochen, 800 Kilometern, ungezählten Blasen und unglaublichen Erlebnissen habe ich das Ziel meiner Reise erreicht. Und damit meine ich nicht nur die Kathedrale.

Ich bin angekommen, auch bei mir.