1500 Fluggäste saßen in Fuhlsbüttel wegen des Orkantiefs „Christian“ auf dem Rollfeld fest. Autofahrer brauchen mehr als 40 Minuten von der Laeiszhalle bis Dammtor.

Hamburg. Die schiere Kraft, mit der das Orkantief „Christian“ über Hamburg hinweggefegt ist, überrascht selbst gestandene Bundespolizisten. „So viele entwurzelte Bäume habe ich entlang der Bahnstrecke noch nicht gesehen“, sagt ein Beamter. So wie er hätte wohl kaum jemand dem Orkantief zuvor eine derartige Zerstörungskraft zugetraut – Verkehrschaos inklusive. Teilweise ging auf den Schienen, den Straßen und dem Flughafen nichts mehr.

Erst im Laufe des Tages hat sich die Situation so dramatisch zugespitzt. So sehr, dass die Feuerwehr um 14.25 Uhr den Ausnahmezustand ausruft. „Hört sich schlimm an, aber diese Maßnahme hatte vor allem einsatztaktische Gründe“, sagt Feuerwehrsprecher Martin Schneider. „So können bestimmte Einheiten ganze Einsatzpakete abfahren“, so Schneider weiter. „Allerdings haben wir unsere Leistungsgrenze noch längst nicht erreicht.“

Seit dem Morgen jagt ein Einsatz den nächsten. Bis zum Abend rückt die Feuerwehr – auch alle Freiwilligen sind im Einsatz – wetterbedingt rund 1400-mal aus. Zum Vergleich: An normalen Tagen gibt es höchstens fünf solcher Einsätze. Fast 1000 Bäume sind nach Schätzungen der Feuerwehr am Montag entwurzelt worden, sind auf Straßen, Häuser und Autos gestürzt. Durch den Starkregen in der Nacht zuvor ist das Erdreich derart aufgelockert worden, dass viele Bäume den Gewalten nicht zu trotzen vermochten.

Im gesamten Stadtgebiet deckt der Orkan Dächer ab, eine Fläche von 100 Quadratmetern hebt der Wind am Ernst Deutsch Theater an, betroffen sind auch Gebäude am Fischmarkt oder das Kaifu-Gymnasium in Eimsbüttel. Gegenstände wirbeln durch die Luft, an der Roonstraße etwa kracht ein Dixieklo gegen ein Auto. Fotovoltaik-Anlagen werden beschädigt, Baugerüste kippen um. Immer wieder krachen Bäume auf Autos. So wie am Jaguarstieg (Lokstedt), wo eine Pappel einen geparkten Renault zerquetscht. Am frühen Nachmittag hasten die Höhenretter der Feuerwehr zu einem Hochhaus an der Hammerbrookstraße – dort droht ein Fenster auf die Straße zu stürzen. Es weht und pfeift den ganzen Tag. Und es wird schlimmer, von Stunde zu Stunde.

Der erste schwere Herbststurm der Saison legt fast den gesamten S-Bahn-Verkehr lahm. Am frühen Nachmittag stürzt ein 15 Meter langer Baum auf die Gleise zwischen Ohlsdorf und Poppenbüttel (kurz vor der Station Hoheneichen). Zwei Züge sind betroffen, einer wird schwer beschädigt, die Feuerwehr muss die Waggons evakuieren. Wenig später ein ähnlicher Unfall am Plöner Stieg, kurz vor der Station Diebsteich – dort müssen die Fahrgäste fast zwei Stunden auf ihre Rettung warten. Die Unfälle sind indes nur Beispiele für das Chaos im gesamten Stadtgebiet. Derart viele Bäume stürzen auf die Schienen, dass die Deutsche Bahn um 15 Uhr die Notbremse zieht und den kompletten Bahn-Verkehr in und um Hamburg stoppt. Nur im City-Tunnel zwischen Altona und Hauptbahnhof fahren noch Züge. Ein Sprecher: „Hier geht alles drunter und drüber!“

So sieht es denn auch am Hauptbahnhof aus. Die Bahnsteige der S-Bahn sind überfüllt. Ein Zug steht am Gleis. Niemand steigt ein. Wer in Richtung Harburg fahren möchte, braucht Geduld. „Wir stehen hier schon über eine Stunde. Wir sollen auf Busse umsteigen. Aber die sind doch eh voll“, sagen René und Jaqueline Böck. Sie wollen nach Jesteburg. Auch Adelheid Schädlich wartet schon seit zwei Stunden vergeblich. „Wenn es anders nicht geht, muss ich eben ein Taxi nehmen.“ Doch auch da hätte sie kein Glück – der Taxiplatz vor dem Bahnhof ist wie leer gefegt. So wie Adelheid Schädlich ergeht es Tausenden Fahrgästen, die nur ein Ziel haben: nach Hause kommen.

Praktisch der gesamte Verkehr ist durch Orkantief „Christian“ zusammengebrochen. Zeitweise stehen auch die U-Bahnen der Linien U1 und U3 still. Zwar richtet die Hochbahn einen Ersatzverkehr ein – doch die Busse kommen nur schleppend voran, weil der Autoverkehr durch Äste und Bäume auf den Straßen ins Stocken geraten ist. „Wir haben hier eine sehr angespannte Situation“, sagt Hochbahn-Sprecherin Maja Weihgold. Besonders dicht sind die Straßen rund um den Hauptbahnhof in Richtung Süden. Aber im Prinzip steht ganz Hamburg still. „Die ganze Stadt ist dicht.“ So berichten Autofahrer, dass sie mehr als 40 Minuten von der Laeiszhalle bis Cinemaxx Dammtor unterwegs sind. Weitaus weniger stark betroffen sind indes die Autobahnen.

Auch am Flughafen Hamburg geht zeitweise nichts mehr. Rund 1500 Passagiere müssen von 15 Uhr an in ihren Fliegern ausharren. 15 Maschinen können nicht abgefertigt werden, weil, so die Befürchtung, die Windstöße die Flugzeuge schwer beschädigen könnten, wenn die Einstiegs- oder Gepäckluken geöffnet werden. Erst als sich Flughafen-Fahrzeuge als Windschutz um die Flieger gruppieren, können sie endlich abgefertigt werden.

Besonders massiv sind die Auswirkungen im angesagten Karoviertel. Wegen der heftigen Böen muss der Abriss eines akut einsturzgefährdeten, viergeschossigen Wohnhauses an der Turnerstraße 10 unbedingt noch am Montag starten. Am frühen Nachmittag hat das Bezirksamt Mitte den Notabriss des Gebäudes verfügt – zu groß ist das Risiko, dass sich Teile aus der Fassade lösen. Die Polizei sperrt die Straße ab und bittet Anwohner, sich nur im hinteren Teil ihrer Wohnungen aufzuhalten. Gegen 17 Uhr rückt der Abrisstrupp an. Wie berichtet, will der Eigentümer, das städtische Wohnungsunternehmen Saga GWG, seit Längerem das marode 150 Jahre alte Gebäude abreißen. Mitte vergangener Woche gab der Bezirk dafür grünes Licht. Ursprünglich wollte Saga GWG mit den Arbeiten aber erst in den kommenden Tagen beginnen. „Christian“ hat den Plan hinfällig gemacht.

Auch im Umland tobt das Orkantief bis in die frühen Abendstunden mit unverminderter Kraft. In Kisdorf (Kreis Segeberg) wird eine Autofahrerin verletzt, als während der Fahrt ein Baum auf sie stürzt. Im Landkreis Stade blockieren umgekippte Bäume den Bahnverkehr. Erst gegen 17.45 Uhr traut sich das Unternehmen Metronom wieder, einzelne Züge fahren zu lassen – allerdings nur langsam und nur auf Sicht.

Am frühen Abend flaut der Orkan ab. In der Spitze sind in Hamburg Windgeschwindigkeiten bis 119 km/h gemessen worden. „Im Vergleich zu anderen nördlichen Regionen hat Hamburg nur einen Streifschuss abbekommen“, sagt Meteorologe Daniel Wünsch vom Institut für Wetter- und Klimakommunikation. So seien etwa in St. Peter-Ording Spitzenwerte von 173 km/h gemessen worden. Für den heutigen Dienstag sei mit stürmischem Wetter, aber nicht mehr mit Orkanböen zu rechnen. „Wir werden zwischen Windstärke sieben und acht liegen.“