Was der Franziskaner predigt, sorgt 1523 in der Stadt für helle Aufregung. Der Ablass sei nichts als Schwindel, sagt Stephan Kempe. Er bereitet der Reformation in Hamburg den Weg.

Wo steht es geschrieben?“, ruft der Mann auf der Kanzel und greift nach einem Buch, das er so hoch hält, dass es auch diejenigen sehen können, die nur ganz hinten ihre Stehplätze gefunden haben. Dicht gedrängt stehen die Menschen an diesem frühen Sonntagmorgen des Jahres 1523 in der Kirche des Maria-Magdalenen-Klosters, um diesen Franziskaner predigen zu hören. Erst vor einigen Wochen ist Stephan Kempe aus Rostock gekommen, man hat ihn vom dortigen Franziskanerkloster St. Ägidien nach Hamburg geschickt, um hier Angelegenheiten seines Ordens zu regeln. Wenn es dabei geblieben wäre, hätte das niemanden interessiert, aber schon seit er zum ersten Mal auf der Kanzel der Klosterkirche stand, hat sich überall in der Stadt herumgesprochen, dass dieser Bruder Stefan ganz unerhörte Dinge sagt und die Mönche und die Bischöfe, die Kardinäle und die Ablasshändler gehörig ins Gebet nimmt.

„Wo steht hier etwas vom Ablass geschrieben? Bei Markus nicht, bei Matthäus nicht, bei keinem der Evangelisten. Und auch sonst nirgends in der Heiligen Schrift“, sagt der Prediger. „Und wer mir das nicht glaubt, der kann es jetzt nachlesen, wenn er denn lesen kann. Dieses Neue Testament, das Doktor Luther aus Wittenberg in unsere Sprache übersetzt hat, ist hier in Hamburg gedruckt worden“, sagt Kempe, der das Buch nun auf die Kanzel legt. Atemlos verfolgen die Menschen die Predigt des Mönchs, die so ganz anders klingt als die langweiligen Litaneien, die sie sonst von der Kanzel gehört haben. Aus allen vier Kirchspielen sind Handwerker gekommen, aber auch arme Tagelöhner. Vornehme Kaufleute stehen neben abgerissenen Gestalten, die sonst als Bettler auf der Steinstraße ihr Auskommen suchen. Die Gattin eines Ratsherrn steht im kostbaren Kleid aus flandrischem Tuch neben einer jungen Frau, die den Kopf gesenkt hält, weil sie vermeiden möchte, als Hure erkannt zu werden.

Aber jetzt achtet ohnehin niemand auf seinen Nachbarn, denn alle Augen sind auf die Kanzel gerichtet, die an einem nördlichen Pfeiler inmitten des Langhauses angebracht ist. „Nicht mit Geld lässt sich die Seligkeit erkaufen. Wer Geld bezahlt, um von seinen Sünden erlöst zu sein, der wird es nur verlieren und trotzdem im Fegefeuer schmoren. Sola Gratia“, ruft Kempe in den überfüllten Kirchenraum, dann fällt ihm ein, dass die meisten der Anwesenden kein Latein verstehen. „Allein aus Gnade werden wir von den Sünden erlöst. Allein aus der Gnade Gottes erlangen wir das Heil, und allein durch den Glauben wird es uns zuteil“, sagt Kempe, der nun den Kopf senkt, die drei Ratsherren wieder in den Blick nimmt und hinzufügt: „Der Ablass, den man euch aufschwatzt, der ist nichts als ein großer Schwindel. Das hat Doktor Martinus aus Wittenberg aller Welt verkündet, und es ist wahr, weil wir es aus der Heiligen Schrift wissen. Vor Gott sind alle Menschen gleich“, sagt Kempe nun wieder direkt an die drei Ratsherren in der ersten Reihe gewandt: „Und kein noch so reicher Kaufmann kann sich von seiner Sünde mit Gold oder Geld freikaufen. Gott segne uns, Arm und Reich. Amen.“

Im linken Seitenschiff steht ein Dominikanermönch, der Kempes Predigt besonders aufmerksam verfolgt. Die Kapuze seiner weißen Kutte hat er weit über den Kopf gezogen, denn er möchte nicht erkannt werden. Langsam löst sich Bruder Anselm jetzt von dem steinernen Pfeiler, an den er sich die ganze Zeit über gelehnt hat. Während der Mönchschor, machtvoll begleitet von der großen Orgel, die schon seit mehr als 100 Jahren auf der Nordempore steht, einen Psalm singt, entfernt sich der Mönch fast geräuschlos, tritt durch das Portal hinaus und huscht schnellen Schrittes die Gasse entlang. Mehrfach biegt er ab und blickt sich ein ums andere Mal misstrauisch um. Nein, niemand verfolgt ihn, wahrscheinlich hat ihn keiner der Gottesdienstbesucher bewusst wahrgenommen, denkt Bruder Anselm, als er durch das Tor des Klosters St. Johannis tritt. Nur kurz verweilt er in seiner engen Zelle, setzt sich auf die hölzerne Schlafstatt, lässt die Perlen seines Rosenkranzes durch die Finger gleiten und versucht, sich das Geschehen der letzten Stunde zu vergegenwärtigen.

Er sieht ihn vor sich, wie er auf der Kanzel steht und predigt. Dieser Franziskaner aus Rostock ist kein demütiger Diener der Kirche, sondern ein Aufrührer, ein Umstürzler. Und er macht kein Hehl daraus, sondern nennt den Ablass einen Schwindel und wirft Mönchen und Nonnen, Bischöfen und Kardinälen, ja sogar dem Heiligen Vater Sittenlosigkeit vor. Wie haben die Leute an seinen Lippen gehangen, nicht nur einfaches Volk, auch drei Ratsherren waren dabei. Der Franziskaner hat so gepredigt, dass sie ihn alle verstehen können, er hat sie auf seine Seite gezogen und ihnen von diesem mit Acht und Bann belegten Ketzer aus Wittenberg erzählt, dessen Namen er gar nicht in den Mund nehmen will.

Stephan Kempe lässt nichts gelten außer der Heiligen Schrift

Eilig steht Bruder Anselm auf, verlässt seine Zelle und läuft mit gesenktem Haupt durch die Gänge des altehrwürdigen Klosters St. Johannis. Wenig später betritt er die Bibliothek und lässt sich dort von Bruder Vincent, der die Bücher verwaltet, einen Pergamentbogen aushändigen. Dann tritt er an das hinterste Pult, entzündet das Talglicht, holt das Schreibzeug hervor und greift nach dem Federkiel „Sola Scriptura. Sola Gratia. Sola Fide“, beginnt er seinen Bericht, den er in geschliffenem Latein abfasst. Wortgenau zitiert er aus dem Gedächtnis Kempes Predigt, der sich auf die Heilige Schrift berufen hat und nichts außer der Bibel gelten lässt. Der behauptet, dass der Mensch nicht durch eigene Werke oder durch Ablasszahlungen vor Gott bestehen kann, sondern nur durch die Gnade Gottes und den Glauben an Jesus Christus, so wie es geschrieben steht. Je mehr er die Predigt in seinem Bericht wiedergibt, desto plausibler erscheinen ihm Kempes Gedankengänge. Erschrocken hält er inne, sollte er selbst schon vom Gift dieser Ketzer angesteckt worden sein? Nein, das wird er nicht zulassen, denkt Anselm, setzt seinen Bericht eilig fort. Ganz unten auf dem Pergamentbogen vermerkt er die drei Ratsherren, die direkt unter der Kanzel gestanden habe: Hinnerk Müller, Berthold Donner und Johannes Grothe. Der Löschsand trocknet die Tinte, Bruder Anselm faltet das Pergament zusammen und verschließt es mit dem Siegel des Klosters.

In großer Eile verlässt er die Bibliothek, übersieht an deren Ausgang den fragenden Blick von Bruder Vincent und läuft bald darauf mit schnellen Schritten durch die Gassen zum Dom. Die Turmuhr von St. Petri schlägt die dritte Stunde, gerade noch rechtzeitig erreicht Anselm den vereinbarten Treffpunkt in einem Seitenschiff der Domkirche. Vor dem Altar, der dem heiligen Lukas geweiht ist, steht sein Gewährsmann. Es ist der Diener eines Domherrn, dessen Name Anselm nicht kennt. Er muss ihn nicht kennen, sondern nur seinen Auftrag erfüllen. Der Mann scheint ganz im Gebet versunken zu sein, doch hat er Anselm längst bemerkt. Als der Mönch neben ihm steht, greift er mit der Hand nach dem Pergament, das er sofort unter seinem Gewand verschwinden lässt. Dann bekreuzigt er sich und verlässt wortlos den Dom. Bruder Anselm bleibt noch, betrachtet die kunstvoll geschnitzten Figuren im Schrein des Altars, die Lukas zeigen, wie er vor einer Staffelei sitzt und die Jungfrau Maria malt. In der Vulgata, der lateinischen Bibel, in die er sich in der Klosterbibliothek vertieft, hat er nichts davon gelesen. Sola Scriptura, allein die Schrift, wieder kommt ihm Kempes Predigt in den Sinn. „Ich muss auf andere Gedanken kommen“, flüstert der Dominikaner, als er den Mariendom verlässt.

Stephan Kempe wird auch weiterhin bespitzelt und angefeindet, aber er verstummt nicht. Vor allem seiner Überzeugungskraft ist es zu danken, dass sich der neue Glaube durchsetzt, dass Hamburg bald evangelisch wird.