Nur 16 Lehrlinge gibt es in Hamburg. Situation bei Spezialbetrieben besonders prekär. Das Gewerbe droht zu schrumpfen. Dabei steigt die Nachfrage vor allem bei Älteren und Kranken.

Hamburg. Reiner Schumacher tut genau das, was sein Name sagt: In seiner Werkstatt in Harburg entstehen maßgefertigte Schuhe für 800 bis 1200 Euro aus feinem Leder. Es riecht nach Leim, auf den Arbeitstischen liegen Korkfußbetten, Zangen und Hämmer. Hinter einer Tür in einem Nebenraum surrt eine Schleifmaschine. Hier wird das Leder so bearbeitet, dass Überlappungen keine Druckstellen bilden können.

Trotz des Preisniveaus sind die Kunden aber nicht etwa begüterte Hamburger, die höchsten Komfort und Individualität suchen. Denn der Geschäftsführer mit dem grauen Schnurrbart ist Orthopädieschuhmachermeister. Zusammen mit 15 Beschäftigten arbeitet er für Menschen, die krankheitsbedingt nicht mit Standardschuhwerk zurechtkommen.

Dem Klischeebild des Berufsstands entspricht das Hamburger Geschäft nicht: Es ist ein modern gestalteter, luftiger Schuhladen, an den sich so etwas wie eine Arztpraxis mit Messräumen und Behandlungszimmern für Fußpflege anschließt. Schumachers Betrieb ist allerdings auch ungewöhnlich groß – im Schnitt haben Geschäfte dieser Branche, von denen es rund 30 in Hamburg gibt, nur drei bis vier Mitarbeiter.

Dabei droht das Gewerbe zu schrumpfen. „Die Nachwuchssituation ist problematisch“, sagt Adelbert Fritz, Geschäftsführer der Landesinnung für Orthopädie-Schuhtechnik Nord. Im vergangenen Jahr habe in Schleswig-Holstein nur ein Auszubildender mit der Lehre begonnen, in Hamburg gar keiner. „Der Beruf ist nicht sehr bekannt“, sagt Fritz. Doch auch im allgemeinen Schuhmacher-Handwerk sei es nicht einfach, die Lehrstellen mit geeigneten Bewerbern zu besetzen, sagt Martin Bartold, Obermeister der Hamburger Innung. In der Stadt gebe es aktuell nur 16 Auszubildende.

Speziell bei den Orthopädieschuhmachern kommt hinzu: Die Lehre dauert dreieinhalb Jahre, weil man sich nicht nur alle Fertigkeiten eines Schuhmachers aneignen muss, sondern darüber hinaus medizinisches Wissen braucht. „Dafür ist die Ausbildungsvergütung mit 413 Euro im ersten Lehrjahr und 600 Euro im letzten Jahr recht niedrig“, erklärt Schumacher. „Das ist nicht hilfreich.“

Onno Voogd, 18, hat sich davon nicht abschrecken lassen. Er beginnt am 1. August seine Lehre in dem Hamburger Betrieb. „Eigentlich war es gar nicht mein Ziel, Orthopädieschuhmacher zu werden“, so Voogd. „Ich hatte mich hier um eine Lehrstelle als Einzelhandelskaufmann beworben.“ Schumacher konnte ihm auf diesem Gebiet nichts anbieten, schlug ihm aber stattdessen ein zunächst zweiwöchiges Praktikum vor, um das Handwerk kennenzulernen.

„Die erste Zeit war sehr schwer. Ich habe gleich Korkabsätze geformt und Leder zugeschnitten – das hat nicht immer sofort geklappt“, erzählt Voogd. „Aber es macht trotzdem Spaß und ich habe mich entschieden, zu bleiben.“ Den jungen Mann reizt die Herausforderung, individuelle Schuhe für kranke Menschen zu „bauen“, wie es in dem Gewerbe heißt. „Die meisten meiner Freunde kannten diesen Beruf gar nicht, aber dann fanden sie es ganz cool, was man hier tut.“

Von den bundesweit nur rund 800 Auszubildenden sind 40 Prozent Frauen. „Sie haben nun einmal eine besondere Beziehung zu dem Produkt Schuh“, sagt der Geschäftsführer, der auch Obermeister der Landesinnung ist. „Schließlich gehört zu unseren Aufgaben auch so etwas wie Stilberatung und wir müssen versuchen, mit unseren Schuhen auch auf aktuelle Moden einzugehen, was aber meist schwer fällt.“

Den größten Teil der Kunden stellen inzwischen die Diabetiker. Menschen mit diabetesbedingten Nervenschäden nehmen Druckstellen am Fuß nicht rechtzeitig wahr, so dass sich durch handelsübliche Schuhe Blasen und Hornhautschwielen bilden, die sich dann zu offenen Wunden entwickeln können. Offiziellen Zahlen zufolge haben bereits gut neun Prozent der Deutschen Diabetes – Tendenz stark steigend. Auf der anderen Seite haben Krankenkassen ihren Leistungskatalog eingeschränkt oder halten die Erstattungen seit vielen Jahren konstant. „Früher haben wir 400 Paar Schuhe im Jahr angefertigt, heute sind es noch etwa 200“, erklärt Schumacher.

Immer häufiger muss bei leichterem Diabetes die günstigere Lösung, vorgefertigte Schuhe durch Einlagen möglichst individuell anzupassen, gewählt werden. Solche Einlagen kosten 80 bis 300 Euro. Vor diesem Hintergrund machen Handelswaren wie Schuhe für lose Einlagen und Bandagen ungefähr 40 Prozent des Gesamtumsatzes von Schumachers Geschäft aus. Rund 25 Prozent entfallen auf privat bezahlte Rechnungen. So bekommen zum Beispiel Kunden, die Sporteinlagen für 160 Euro wünschen, das Geld von den Kassen nicht mehr erstattet bekommen.

Reiner Schumacher kennt die Branche seit Jahrzehnten. Der 59-Jährige hat den Betrieb von seinem Vater übernommen, der das Geschäft vor 52 Jahren gründete. Eine Veränderung, die Schumacher erlebt hat, ist der Einzug moderner Technik wie etwa der Geräte zur Druckverteilungsmessung. „Die Messtechnik wird aber überschätzt“, findet er: „Erfahrung lässt sich schwer ersetzen. Ich habe bestimmt 50.000 Füße gesehen.“ Eine der Erkenntnisse: „Personen, die aus der Hamburger Region stammen, haben ein höheres Fußgewölbe als Süddeutsche.“

Zwar ist Schumacher klar, dass sich nicht alle Menschen Maßschuhe leisten können und wollen. „Aber es tut mir in der Seele weh, wenn ich sehe, was gerade junge Leute an den Füßen tragen.“ Damit meint er nicht etwa ordentlich gefertigte Sportschuhe: „Da wurde viel Know-how hineingesteckt.“ Was ihn stört, sind Billigprodukte wie zum Beispiel Straßenschuhe für weniger als 50 Euro: „Wenn man die zerlegt, sieht man, dass da Pappe verarbeitet ist.“