Ein Glücksfall der Geschichte: Speicherstadt und Kontorhausviertel haben alle Zeitläufte überstanden. Jetzt sollen sie Weltkulturerbe der Unesco werden.

An Weltkulturerbe hätte in den 1920er-Jahren noch niemand gedacht, noch nicht einmal der Begriff war damals geprägt. Und was uns heute als Denkmal der Kultur- und Architekturgeschichte begegnet und demnächst mit einem von der Unesco vergebenen internationalen Gütesiegel geadelt werden soll, galt in der dynamischen und aufgewühlten Zeit zwischen den beiden Weltkriegen als ultramodern.

Es lässt sich gut vorstellen, wie erstaunt und beeindruckt die Hamburger waren, als 1924 endlich die Gerüste fielen und die Ostspitze des Chilehauses wie der Bug eines gewaltigen Schiffs aufragte. Ein Gebäude mit solch atemberaubender Dynamik, mit gotisierenden Bögen, plastischen Arkaden und geschwungenen Fassaden war ungewohnt, aber es wirkte überzeugend. Nie zuvor war ein Architekt so kühn und modern mit dem traditionsreichen Material Backstein umgegangen wie Fritz Höger bei der Erbauung des Chilehauses, das einen damals völlig neuen Typ des Bürohauses verkörpert. Dass der Klinker für expressionistische Architektur faszinierende Gestaltungsmöglichkeiten bot, zeigen auch der Meßberghof, der Sprinkenhof und der Mohlenhof, die das in den 1920er- und 1930er-Jahren nördlich des Zollkanals entstandene Kontorhausviertel prägen.

Und auch jenseits des Kanals leuchtet der rote Backstein an den Fassaden der historistischen Lagerhäuser, die schon ab 1885 entstanden und bis heute das weltweit größte zusammenhängende Speicherensemble bilden. Wer über das historische Pflaster der Speicherstadt schlendert, eine der Brücken am Zollkanal überquert und das Kontorhausviertel erreicht, durchmisst ein halbes Jahrhundert Stadtbaugeschichte und urbane Entwicklung. Wie im Zeitraffer zieht jene Epoche vorüber, die mit der industriellen Revolution einsetzte und aus beschaulichen Städten pulsierende Metropolen machte.

Und damit den Menschen nicht schwindelig wurde bei so viel Tempo und Wandel, setzte man Ende des 19. Jahrhunderts zumindest bei der Gestaltung der Fassaden noch auf die aus der Geschichte vertrauten Formen, auf neoromanische und neogotische Bögen und Giebel, auf Erker und Rosetten. Franz Andreas Meyer, unter dessen Leitung die Speicherstadt in drei Bauabschnitten errichtet wurde, suchte noch den Rückgriff auf historistische Formen. Doch die Zeiten änderten sich. Fritz Höger, Rudolf Klophaus, Hans und Oskar Gerson und die anderen Architekten des Kontorhausviertel konnten Jahrzehnte später für neue Bauaufgaben neue Formen suchen und finden.

Noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die traditionellen Hamburger Kaufmannshäuser Wohnung, Kontor und Lager unter einem Dach vereint. Durch Industrialisierung und Urbanisierung, die massenhafte Produktion von Waren und deren sprunghaft gestiegenen Transport hatte sich dieses Konzept überlebt, auf dem Areal von Wandrahm und Kehrwieder entstand mit der Speicherstadt ein völlig neuartiger Lagerhauskomplex, der durch das anschließend errichtete Kontorhausviertel, das zugleich Teil der sich entwickelnden City war, um ein Büroviertel von nie gekanntem Ausmaß ergänzt wurde.

Es ist ein Glücksfall der Geschichte, dass trotz aller Zerstörungen in und nach dem Zweiten Weltkrieg Speicherstadt und Kontorhausviertel bis heute als zusammenhängende, einheitlich geprägte und weitgehend homogene Ensembles erhalten geblieben sind. Der "außergewöhnliche und universelle Wert", der die entscheidende Voraussetzung für die Aufnahme in die Welterbeliste der Unesco bildet, ist hier auf Schritt und Tritt zu spüren. Wenn die Unesco im kommenden Jahr ihre Expertenkommission nach Hamburg schickt, werden die angereisten Historiker, Kunsthistoriker, Kulturwissenschaftler und Architekten gewiss spüren, dass die beiden Gebäudeensembles beiderseits des Zollkanals sowohl Hamburger Stadtgeschichte repräsentieren, zugleich aber das eindrucksvolle Denkmal einer Entwicklung sind, die sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts überall in Europa auf ähnliche Weise vollzogen hat.

Und ein weiterer Glücksfall ist die Tatsache, dass Speicherstadt und Kontorhausviertel keine musealen Areale, sondern lebendige Stadträume sind. Ein Bauwerk kann auf Dauer nur erhalten werden, wenn es seine Funktion behält. Eine Kirche ohne Gemeinde, ein Schloss ohne Adel und eine Fabrik ohne Produktion lassen sich nur dann für die Zukunft bewahren, wenn sich eine neue Nutzung für sie findet. Die Büros in den Gebäuden des Kontorhausviertels sehen heute zwar völlig anders aus als vor 80 oder 90 Jahren, aber sie dienen noch ihrer ursprünglichen Funktion. Und obwohl in den Böden der neogotischen Häusern der Speicherstadt immer weniger Kaffee, Tee, Gewürze und Teppiche gelagert werden, ist es auf überzeugende Weise gelungen, mit Museen, Gastronomie und Veranstaltungsräumen neue Nutzungen zu finden, die die Geschichte des Viertels nicht nur respektieren, sondern für Einheimische und Besucher erlebbar machen. Speicherstadt und Kontorhausviertel sind nicht nur Hamburger Sehenswürdigkeiten, sondern großartige Beispiele der europäischen Stadtbau- und Kulturgeschichte. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Unesco dem Rechnung trägt und Hamburg in die Liste ihres Weltkulturerbes aufnimmt, ist daher groß.