Beschäftigte des Hamburger Spieleentwicklers wollen nach Stellenabbau mehr Mitbestimmung. Vorbild für andere Firmen der Branche?

Hamburg. Als sich die Mitarbeiter von Bigpoint jüngst zu einer Versammlung getroffen haben, war der Saal so voll, als hätten sich George Clooney und Gisele Bündchen gleichzeitig zu einem Spontanbesuch angesagt. Mobile Wände wurden verschoben, um mehr Platz zu schaffen, die Leute, meist in den Klamotten junger Medienmacher mit Kapuzenpullis und Turnschuhen, standen, lagen, nutzten jeden Zentimeter aus, um dabei sein zu können. Dabei ging es "nur" um die Gründung eines Betriebsrats. Etwas, das die Internetszene bisher als so altmodisch, als so unsexy abgestempelt hat wie Badekappen tragen im Schwimmbad.

Der Grund für das plötzliche Interesse an Mitbestimmung: Bigpoint hatte vor wenigen Monaten angekündigt, 120 Mitarbeiter zu entlassen. Es war das plötzliche Ende einer fast beispiellosen Erfolgsstory. Das Unternehmen, Erfinder von Spieleklassikern wie Farmerama und Drakensang, hatte in wenigen Jahren mehr als 800 Stellen geschaffen. Die Beschäftigten waren begeistert, virtuelle Abenteuer zu entwickeln, die sie selber gerne spielten, arbeiteten für ihre Leidenschaft. Sie feierten ihre Erfolge bei rauschenden Mitarbeiterpartys etwa auf der "Cap San Diego". Und sie waren stolz, als sich für 350 Millionen Dollar internationale Finanzinvestoren an der Firma beteiligten.

Jetzt sind die Mitarbeiter von Bigpoint zurück im wirklichen Leben. Die Arbeit ist kein Ponyhof mehr, denn die Welten, die sie auf virtuellen Bauernhöfen wie Farmerama, in Abenteuerspielen mit mutigen Kämpfern immer wieder neu erschaffen, finden nicht mehr so leicht neue Einwohner. Es wird immer schwieriger und damit teurer, Spieler zu werben, die für dieses Freizeitvergnügen etwas zahlen wollen. Bigpoint hatte ungeachtet dieser steigenden Marketingkosten seine Investitionen in neue Mitarbeiter ungebremst fortgesetzt, hatte einen Wasserkopf aufgebaut, war letztlich zu schnell gewachsen. Die Leute seien bei Bigpoint auf Vorrat eingestellt worden, sagt man in der Branche. Und dann hatte Ende vergangenen Jahres auch noch der Bigpoint-Gründer Heiko Hubertz angekündigt, sich aus dem Management zurückziehen und auf eine längere Weltreise gehen zu wollen.

Das Geschäft wird schwieriger, die Stellen werden unsicherer. "Die Welt bisher war gut und bunt, aber nun merken die Mitarbeiter, dass sich etwas ändert", sagt Gabriele Weinrich-Borg, die bei der Gewerkschaft Ver.di für IT-Firmen zuständig ist. Weinrich-Borg schien selber überrascht von dem großen Engagement der Beschäftigten und ihrem Einverständnis darüber, jetzt einen Betriebsrat für Bigpoint wählen zu wollen. "Das Interesse ist sehr groß", sagt die Gewerkschafterin.

Auch Mathias Böttcher von Bigpoint ist angetan von der Resonanz aus dem Unternehmen. Er gehört zu den am längsten bei Bigpoint beschäftigten Mitarbeitern, kennt die Firma sehr gut und wirkt jetzt als Vorsitzender des Betriebsratswahlvorstands an der Bildung des Gremiums mit.

"Die Idee eines Betriebsrat bei Bigpoint fand ich schon seit längerer Zeit interessant, daher habe ich mich über die Initiative der Kollegen zur Betriebsratsgründung gefreut", sagt Böttcher. Er erhoffe sich vom Betriebsrat, dass er die Bedürfnisse der Belegschaft kanalisieren und die Geschäftsleitung mit diesen Informationen versorgen werde. Gemeinsam solle so eine weiterhin positive Entwicklung und Gestaltung der Firma ermöglicht werden. "Hierbei sollten meiner Meinung nach ein attraktives Arbeitsumfeld und die wirtschaftliche Entwicklung der Firma im Einklang stehen", sagte Böttcher. Die Wahl findet im März statt.

In den anderen Spielefirmen der Stadt, die zusammen rund 4000 Mitarbeiter beschäftigen, hält sich die Begeisterung für einen Interessenausgleich zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern dagegen stark in Grenzen: Nach Informationen von Ver.di gibt es hier bisher keinen einzigen Betriebsrat.

Für Unruhe im Flurfunk sorgt bei vielen Onlinefirmen derzeit allerdings die Frage nach dem Gehalt. Die Anfangseinkommen der Spieleentwickler liegen nach Angaben von Marktinsidern im Schnitt bei 3000 Euro, Beschäftigte mit mehr Verantwortung kommen auf 5000 bis 6000 Euro brutto im Monat. Darüber herrscht allerdings wenig Transparenz, es soll in Sachen Gehalt durchaus einige Ausschläge nach unten geben. Und angesichts vieler Überstunden, die in dem Wachstumsmarkt anfallen, fühlt sich so mancher Beschäftigte denn auch unterbezahlt.

Am Anfang ihrer Karriere seien die meisten Mitarbeiter bereit, viel Zeit für die Arbeit zu opfern, in der Lebensmitte aber würden sich etliche Leute mit einer 60-Stunden-Woche fragen, ob sie das bis zur Rente durchhalten, sagt Kirsten Jöhnck, die bei Ver.di ebenfalls für IT-Firmen zuständig ist. Allein schon, um Fragen des Arbeitszeitengesetzes und der Lohngerechtigkeit klären zu können, hätten sich in etlichen Unternehmen der Branche, die schon länger am Markt sind, Betriebsräte gebildet, etwa bei IBM oder SAP.

Bei Spielefirmen sind dagegen viele Berufsanfänger beschäftigt, die sich mit solchen Fragen häufig noch nicht auseinandersetzen. Da steht die Mitbestimmung noch am Ende der beruflichen Wunschliste, heißt es bei Ver.di.

Außerdem herrscht gerade in Hamburg in der Branche - trotz des Bigpoint-Falles - eine Art Goldgräberstimmung. Die Situation bei den Konkurrenten von Bigpoint ist im Grunde ungetrübt: Schwergewichte der Branche wie Goodgames und Innogames wollen allein in der Hansestadt in den nächsten Monaten wiederum Hunderte neue Jobs schaffen. Ihre Personalabteilungen beschäftigen Teams von Dutzenden Mitarbeitern, die nur damit beschäftigt sind, immer neue Stellenanzeigen in den einschlägigen Branchenportalen wie Games-career.com zu veröffentlichen. "Wir hatten 2012 das erfolgreichste Jahr der Unternehmensgeschichte", sagte ein Innogames-Sprecher. Die Mitarbeiter seien weiter optimistisch.

155 Spielefirmen konkurrieren derzeit allein in Hamburg um die Fans von Abenteuern oder Aquarien im Internet, die Stadt ist damit in Deutschland ganz klar die Nummer eins vor Frankfurt, Berlin und München, sagt Branchenkenner Achim Quinke. Bundesweit dürften die Spielefirmen im laufenden Jahr gut 1500 neue Stellen schaffen, schätzt der Leiter der Netzwerkorganisation gamecity:Hamburg. Auch für die Mitarbeiter bei Bigpoint, die ihre Jobs verloren haben, sind die Aussichten also nicht gerade schlecht.