19.676 Schüler wurden 2012 gefördert. Kostenlose Lernförderung an 93 Prozent der Schulen. Schulleiter berichten von ihren Erfahrungen.

Hamburg. Walter Scheuerl, parteiloses Mitglied der CDU-Bürgerschaftsfraktion und erfolgreicher Anti-Primarschul-Aktivist, hat sein Urteil längst gesprochen. Das Sitzenbleiben sei "eine wertvolle pädagogische Maßnahme", dessen Abschaffung folge dagegen "einem gesellschaftlichen Trend zur Kuschelpädagogik, die Kindern zu viel abnehmen möchte". Bundesweit wird über den Sinn der "Ehrenrunden" lebhaft diskutiert, seit die neue rot-grüne Landesregierung in Hannover laut Koalitionsvertrag "Sitzenbleiben und Abschulung durch individuelle Förderung überflüssig machen" will.

Das ist Grund genug, sich die Erfahrungen an den Hamburger Schulen genauer anzusehen, an denen der weitgehende Verzicht auf Klassenwiederholungen längst Realität ist. Zugegeben, es ging im Sturm der Diskussion über die später per Volksentscheid gescheiterte sechsjährige Primarschule ziemlich unter: Am 7. Oktober 2009 beschloss die Bürgerschaft im Zuge der großen Schulreform (unter anderem wurden die Stadtteilschulen eingerichtet) auch die Abschaffung des Sitzenbleibens. Diese Entscheidung fiel einstimmig - die Abgeordneten von CDU, SPD, Grünen und Linken waren dafür.

"Zwischen den Jahrgangsstufen 1 bis 10 rücken die Schülerinnen und Schüler am Ende des Schuljahres in die nächsthöhere Jahrgangsstufe ihrer Schulform auf", heißt es im Paragrafen 45 des Schulgesetzes ebenso schlicht wie allgemein. Der Grundgedanke ist einfach: Statt ein ganzes Schuljahr zu wiederholen, sollen die Schüler, denen eine Fünf droht oder die auf Fünf stehen, in diesen Fächern gezielt durch kostenlose Nachhilfe an der Schule gefördert werden. Das Prinzip: Hilfe, bevor der Ernstfall des Sitzenbleibens eintritt. Die Teilnahme ist Pflicht.

Zwei zentrale Argumente werden neben dem Verbleib im vertrauten Klassenverband immer wieder für die Abschaffung des Sitzenbleibens genannt: Das Wiederholen ist ineffektiv, weil ein Schüler auch den Stoff der Fächer erneut durchnehmen muss, in denen er keine Probleme hat. Zweitens ist das Sitzenbleiben teuer: Bei durchschnittlichen Schülerjahreskosten von 6000 Euro kosteten die Sitzenbleiber die Hamburger Steuerzahler früher jährlich 12,6 Millionen Euro. Zum Vergleich: Für die kostenlose Nachhilfe hat die Schulbehörde 2012 rund 7,6 Millionen Euro aufgewendet.

Die nüchternen Zahlen zeigen, dass die Schulen das Schulgesetz anwenden: Seit dem Schuljahr 2008/09 ist die Zahl der Sitzenbleiber in den Klassen eins bis neun der staatlichen Schulen um 59 Prozent gesunken. Mussten vor fünf Jahren 2108 Schüler eine "Ehrenrunde" drehen, so sind es im laufenden Schuljahr nur noch 861 (0,6 Prozent aller Schüler dieser Klassenstufen). Dass es überhaupt noch Wiederholungen gibt, liegt daran, dass Eltern oder Lehrer die Rückstufung im Einzelfall beantragen können, worüber die Schulaufsicht dann entscheidet. Hauptsächliche Gründe sind langfristige Erkrankungen, familiäre Umstände wie Trennung der Eltern oder Fehleinstufungen nach Rückkehr oder Zuzug aus dem Ausland.

In einer Zwischenbilanz kam die Schulbehörde im Sommer 2012 zu dem Ergebnis, dass 93 Prozent aller Schulen die kostenlose Lernförderung angeboten haben. An 6347 Kursen nahmen 19.676 Schüler teil. Immerhin 37 Prozent der Schüler, die im zweiten Halbjahr gefördert wurden, waren so erfolgreich, dass sie im neuen Schuljahr keine Nachhilfe mehr benötigten.

"Wir haben die Erfahrung gemacht, dass das Wiederholen einer Klasse in vielen Fällen nicht erfolgreich war", sagt Ruben Herzberg, Leiter des Ganztagsgymnasiums Klosterschule (St. Georg). Schüler hätten auch in der neuen Klasse "nicht Tritt gefasst". Aus Herzbergs Sicht ist das Prinzip "Fördern statt Wiederholen" daher eine "gute und richtige Entscheidung". Das Problem hänge an der Qualität der Förderung. "Um hochwertige Förderung zu garantieren, brauchen wir die richtigen Leute", sagt Herzberg. Bei weniger als 17,50 Euro Honorar pro Unterrichtsstunde sei das zum Teil schwierig.

Grundsätzlich können die Schulen das ihnen zustehende Stundenkontingent für die Nachhilfe durch Lehrer erteilen lassen. Kostengünstiger ist die Umwandlung in Honorarmittel. Der Nachteil: Studierende, pensionierte Lehrer oder Oberstufenschüler sind nicht gleichermaßen in die pädagogischen Abläufe der Schule eingebunden.

"Das Wiederholen einer Klasse macht nur dann Sinn, wenn die Leistungen eines Schülers insgesamt katastrophal sind", sagt Egon Tegge, Leiter des Goethe-Gymnasiums in Lurup. Das sei aber nur selten der Fall. Zwischen 20 und 30 Prozent seiner Schüler, so Tegge, hätten keine Gymnasial-Empfehlung gehabt. Für diese Schüler sei die individuelle Förderung richtig. Damit die Förderung frühzeitig erfolgen könne, müssten Lehrer den Lebens- und Lernweg ihrer Schüler genauer verfolgen.

Rainer Hencke, Leiter des Gymnasiums Grootmoor (Bramfeld) und Vorsitzender der Vereinigung der Gymnasial-Schulleiter, ist zurückhaltender. "Es ist eine große Herausforderung, ein Kind, das mit eher schlechten Noten gerade noch in Klasse sieben aufgerückt ist, in den späteren Jahren zu fördern", sagt Hencke. Manchmal könne ein Wechsel auf die Stadtteilschule auch erleichternd wirken. Hencke vermutet, dass die am Gymnasium geförderten Schüler den Sprung in die Oberstufe des Gymnasiums nicht schaffen, sondern lieber den längeren Weg zum Abitur über die Stadtteilschule nehmen.

Walter Scheuerl sieht im Sitzenbleiben nicht Stigma, sondern Chance: "Sitzenbleiber sind oft etwas frecher ("cooler") als ihre neuen Mitschüler, fast immer schnell akzeptiert, werden oft zu Klassensprechern gewählt und zu Leitfiguren." Eine realistische Bilanz des Hamburger Weges wird erst möglich sein, wenn der erste Jahrgang die Schule unter den neuen Bedingungen komplett durchlaufen hat - also 2017.