Nach Brandbrief der Schulleiter: Dieter Lenzen schlägt Sprachförderung für Dreijährige und Pädagogentrios für Klassen vor.

Hamburg. Nach dem Brandbrief von 14 Schulleitern aus Wilhelmsburg und von der Veddel verlangt der Präsident der Universität Hamburg, Dieter Lenzen, eine Kindergartenpflicht für Kinder aus "problematischen Verhältnissen". Außerdem hält der Erziehungswissenschaftler Dreierpädagogenteams nach finnischem Vorbild für sinnvoll.

Hamburger Abendblatt: Was bedeutet es für eine Stadt wie Hamburg, wenn die Schüler eines der größten Stadtteile in der Bildung quasi abgehängt werden?
Dieter Lenzen: Dieses Phänomen ist keine Hamburger Besonderheit, das gibt es auch in anderen Großstädten - man denke nur an die Rütli-Schule in Berlin. Dort war nur eine einzelne Schule betroffen, aber das Beispiel ist eigentlich ermutigend. Es zeigt, dass man das Problem in den Griff bekommen kann. Die hohe Aufmerksamkeit für diese Schule hat das Interesse bei Lehrern geweckt, die gesagt haben: Da sehen wir für uns eine Aufgabe, da wollen wir hin. Die Bilanz nach einem Jahr war sehr positiv. Also: Man darf diese Kinder nicht aufgeben, niemals. Und es gibt offenbar Pädagogen, die die Probleme mit hohem Engagement in den Griff bekommen.

Eignet sich das als Blaupause für Wilhelmsburg?
Lenzen: Wenn sich dort gleich 14 Schulen zu Wort melden, ist das schon ein erheblicher Vorgang, der von enormen Problemen zeugt. Zum großen Leistungsabstand zwischen vielen Wilhelmsburger Kindern und den Schülern anderer Stadtteile - die es übrigens in jeder Großstadt gibt - tragen viele Gründe bei, darunter das soziale Umfeld und die Sprachprobleme. In unserer Gesellschaft ist Sprache der Schlüssel für ein integriertes Leben. Wenn Grundschüler in diesem Bereich große Defizite haben, wird es schwer für sie aufzuholen und mitzuhalten.

Im Alter von viereinhalb Jahren wird bei allen Kindern der Sprachstand erhoben, im letzten Jahr vor der Einschulung erhalten sie dann Sprachförderung. Kommt das zu spät?
Lenzen: Im Grunde genommen ja. Aus empirischen Untersuchungen wissen wir, dass spätestens zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr ein intensiver Spracherwerb stattfinden muss, um sicherzustellen, dass Kinder mit sechs Jahren überhaupt beschulbar sind, also dem Unterricht folgen können.

Früher ansetzen - wie soll man das tun?
Lenzen: Mittlerweile hat zwar jeder Vierjährige einen garantierten Zugang zu einem Kindergartenplatz, aber nicht alle Eltern nehmen dieses Angebot wahr. Man muss schauen, inwieweit es hilfreich wäre, eine Kindergartenpflicht einzuführen. Das würde besonders auch dort helfen, wo das Elternhaus außerstande ist, die notwendige, insbesondere sprachliche Integrationsleistung selbst zu erbringen.

Das gilt sicherlich nicht nur für Sprach-, sondern auch für Verhaltensprobleme. Die Wilhelmsburger Schulleiter berichten von einer Konzentration problembeladener Schüler an ihren Schulen, die sich teilweise nicht an Regeln halten. Oft reichten schon Einzelne, um eine Klassengemeinschaft zu sprengen. Gibt es generell in unserer Gesellschaft einen Verlust an Respekt vor Autoritäten?
Lenzen: Man kann das nicht verallgemeinern. Die Shell-Studien über den Zustand der Jugend zeichnen auf vielen Feldern eher ein gegenteiliges Bild. Demnach hat sich der Respekt - oder ein angemessener Umgang - verbessert. Die wenigen Jugendlichen, die aus der Rolle fallen, tun dies aber in extremerer Weise als früher. Es gibt Randgruppen und Einzelne, die aus den unterschiedlichsten Gründen aus dem System herausfallen. Dazu gehören schwierige soziale Lagen und Bildungsferne. Das entscheidende ist frühe Intervention. Das gilt für den Spracherwerb, aber auch den angemessenen Umgang mit anderen. Wenn die Dinge entgleist sind, ist es zu spät. Wir müssen dafür sorgen, dass das Angebot eines garantierten Kindergartenplatzes auch angenommen wird.

Diese gibt es sicherlich nicht nur in Wilhelmsburg. Aber bezeugt der Hilferuf der Elbinselschulleiter nicht das Scheitern von Pädagogik unter sehr schwierigen Bedingungen?
Lenzen: Wenn in einer Klasse mehr als 50 Prozent sehr leistungsschwache Kinder sitzen, bringt das auch für die anderen große Nachteile mit sich. Oder andersherum: Wenn mehr als jeder Zweite in einer Klasse zu den normal Leistungsfähigen gehört, gibt es eine gute Chance, dass die Schwächeren größere Schulerfolge haben, als wenn sie unter sich blieben. Das ist das A und O: Sie müssen die Schülerschaft durchmischen - und das ist in den genannten Stadtteilen schwer möglich.

Was also tun?
Lenzen: Das Problem ist nicht kurzfristig zu lösen. Die Politik darf sich nicht mit Forderungen unter Druck setzen lassen, die lauten: Macht etwas, damit es morgen besser wird. Das wird nicht gehen. Eine Verbesserung ist letzten Endes nur durch eine erfolgreiche Stadtteilpolitik möglich. In dem Moment, in dem Wilhelmsburg ein attraktiver Stadtteil ist, in den man ziehen möchte, ergibt sich die Mischung durch den Zuzug anderer Bevölkerungsgruppen von selbst. Das wird dann manchmal wie beispielsweise in Berlin-Kreuzberg als Gentrifizierung kritisiert, führt aber dazu, dass die Vereinseitigung aufhört. Bevor der Turnover geschafft ist, werden zehn bis 20 Jahre vergehen. Aber es lohnt sich.

Und was kann Pädagogik beitragen?
Lenzen: Die Erwartung, dass kleine Klassen das Problem lösen, hat sich empirisch als nicht haltbar erwiesen. Als Faustformel gilt: In Klassen mit mehr als 30 Schülern sinken die Leistungen ab. Aber in Klassen, die zahlenmäßig darunter liegen, zeigen sich keine signifikanten Leistungsunterschiede. Anders ist es mit den Verhaltensproblemen in einer Klasse mit schwieriger Schülerschaft. Da ist es von Vorteil, wenn die Klassen kleiner sind oder mehrere Pädagogen im Einsatz sind, sodass die Gruppe in einer schwierigen Situation schnell geteilt werden kann.

Sind durchgängige Doppelbesetzungen im Unterricht die Lösung?
Lenzen: Die Formel, die wir aus Finnland kennen, lautet: In einer Klasse mit bis zu 25 Kindern sind parallel drei Pädagogen tätig.

Das wird Schulsenator Ties Rabe kaum für finanzierbar halten.
Lenzen: Die Finnen arbeiten mit einem Lehrer oder einer Lehrerin, einer Lehrerassistenz und einem Studierenden in einer Klasse. Lehrerassistenten gibt es bei uns nicht. Es könnte sie aber geben: Das wäre etwas für junge Bachelorabsolventen, die bisher nicht an den Schulen arbeiten dürfen. Sie könnten in der Praxis ausprobieren, ob der Beruf etwas für sie ist, und dann den Masterstudiengang anhängen. Auch Praktikanten wären in Hamburg leicht zu finden, wir haben schließlich eine Universität mit vielen Lehramtsstudenten. Dieses Dreiersystem böte auch in Hamburg eine Möglichkeit, die Personalzahlen zu erhöhen und junge engagierte Leute für die Schulen zu gewinnen.

An der Berliner Rütli-Schule, die nach einem Brandbrief der Lehrer 2006 bekannt wurde, haben neue, engagierte Lehrer die Veränderung gebracht. Wäre das auch eine Lösung für Wilhelmsburg?
Lenzen: Ich bin weit davon entfernt zu sagen, dass die Lehrer an den Elbinselschulen nicht geeignet sind. Ich kann gut verstehen, dass sie einfach fertig sind. Sie fühlen sich alleingelassen. Aber häufig ist es so, dass zwei oder drei Neuzugänge, die gestandene, souveräne und verhaltenssichere Persönlichkeiten sind, die Situation in einem Kollegium völlig verändern.