Mehrere Zehntausend Hamburger Rentner sind abhängig. Experten gehen davon aus, dass die Zahl sprunghaft steigen wird.

Hamburg. Jetzt beginnt wieder die schwierige Zeit. Ende Oktober hat Karl F.* besonders schwer zu kämpfen. Vor zwölf Jahren, am letzten Oktobertag, starb seine Frau an Krebs. 38 Jahre Ehe - von einem Tag auf den anderen zu Ende. Bier, Wein oder ein Whisky würden dem 75-Jährigen jetzt helfen, mit der Leere in ihm fertigzuwerden.

Bis vor zwei Jahren ist Karl F. diesen Weg regelmäßig gegangen. Wein schon am Mittag; am Nachmittag kam Bier dazu. Später dann die harten Sachen: Whisky, Cognac, Kräuterschnaps. Getrunken wurde nur daheim - und allein. Die Abende verliefen kürzer und kürzer: Entweder wankte Karl F. früh ins Bett oder ging nicht mehr ans Telefon - aus Sorge, er könnte lallen. So kam es, dass kaum jemand bemerkte, wie aus dem Genusstrinker innerhalb weniger Jahre ein schwerer Alkoholiker wurde.

Im Herbst vor zwei Jahren versagte die Leber ihren Dienst. Karl F. machte ins Bett, erkannte Freunde und Bekannte nicht mehr, konnte keine ganzen Sätze formulieren. Nur die Notversorgung im Krankenhaus rettete ihm das Leben. Seitdem weiß der 75-Jährige, dass seine Zukunft am seidenen Faden hängt. Jeder Schluck Alkohol könnte sein letzter sein, erst recht nach dem Rückfall im Herbst vergangenen Jahres. Und jetzt ist es wieder Oktober.

Bis zu 2,5 Millionen Seniorinnen und Senioren in Deutschland gelten als alkohol- oder tablettensüchtig. Die Hamburger Gesundheitsbehörde schätzt die Zahl aller in der Hansestadt lebenden Alkoholsüchtigen auf bis zu 65.000. Die Alida-Schmidt-Stiftung fand unlängst in einer Befragung heraus, dass zwei von drei Altenpflegern Personen mit problematischem Alkoholkonsum betreuen. Insgesamt leben in Hamburg derzeit rund 450.000 Seniorinnen und Senioren.

Bei den Medikamenten sieht die Situation nicht weniger bedenklich aus. Bis zu 1,9 Millionen Menschen seien medikamentenabhängig, heißt es im Suchtbericht der Bundesregierung. Auf Hamburg heruntergerechnet kommt man auf bis zu 40.000 tablettensüchtige Menschen. Dabei geht es vor allem um den Missbrauch von Benzodiazepinen. Das sind angstlösend und schlaffördernd wirkende Arzneistoffe. Die Gesundheitsbehörde schätzt die Zahl der Dauerkonsumenten von Benzodiazepinen in der Hansestadt auf rund 15.000. Mindestens ein Drittel dürfte inzwischen abhängig sein.

Experten gehen davon aus, dass die Zahl der Senioren mit einem Suchtproblem in den kommenden Jahren sprunghaft steigen wird. Das habe in erster Linie mit der Alterung unserer Gesellschaft und der längeren Lebenserwartung zu tun, sagt Robert Stracke, der die Fachklinik Hansenbarg in Hanstedt bei Hamburg leitet. "Es werden mehr Menschen alt, und viele davon werden besonders alt."

Forscher der Uni Hamburg haben nun herausgefunden, dass in der Hansestadt ältere Menschen besonders häufig und über einen längeren Zeitraum mit derartigen Medikamenten behandelt werden. "Ein Drittel aller Verschreibungen geht an Menschen über 70 Jahre, die entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung somit deutlich überrepräsentiert sind", heißt es in einer im vergangenen Jahr erstellten Studie. "Etwa sechs Prozent aller verordneten und gut 15 Prozent aller verkauften Arzneimittel haben ein eigenes Missbrauchspotenzial", sagt Stracke.

Strackes Klinik liegt idyllisch inmitten eines Wäldchens am Rande der Lüneburger Heide. Die Fahrt über die Autobahn 7 dauert mit dem Auto keine 50 Minuten. Der Herbst hat die Blätter der Bäume gefärbt. Das Gelände des Fachkrankenhauses Hansenbarg liegt still da. Es ist Vormittag, die Zeit der Gruppengespräche.

Siegfried Kogge lebte im vergangenen Jahr für zwölf Wochen an diesem Ort. Zuvor war er innerhalb weniger Monate zum Alkoholiker geworden. "Ich kam mit dem Vorruhestand nicht klar", erzählt der 65-Jährige, der mehr als 30 Jahre bei einem Zulieferer für die Automobilindustrie gearbeitet hatte. Kein Arbeitsbeginn, keine Termine, keine vorgegebene Tagesstruktur. "Wenn ich morgens um acht Uhr aufwachte, war der Tag schon gelaufen."

Ein typisches Szenario, sagt Mediziner Stracke. "Der Übergang ins Seniorendasein ist ein einschneidendes Ereignis." Viele Menschen wüssten nichts mit sich anzufangen. Sie beschleiche das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. "Vor allem für jene, die sich über ihre Arbeit definierten, steht der Sinn des Lebens infrage."

Doch auch andere Ereignisse könnten zum Abgleiten in die Sucht führen. Der Verlust des Lebenspartners, eine schwere Krankheit oder die Erkenntnis, dass man den Alltag nicht mehr allein bewältigen kann: "Die dadurch entstehenden negativen Gefühle sollen durch Alkohol kompensiert werden."

Das Schlimme ist: Am Anfang funktioniert es. Alkohol entspannt und hilft, quälende Gedanken für ein paar Stunden zu vergessen. Er löst Ängste und vertreibt depressive Stimmungen. Dabei ahnen ältere Alkoholsüchtige sehr wohl, dass ihr Tun nicht richtig ist. "Sie trinken vornehmlich allein daheim und bagatellisieren ihr Verhalten", sagt Stracke. Beispielsweise mit flapsigen Sprüchen wie: "Ein Gläschen in Ehren kann niemand verwehren."

Bei Medikamenten ist die Situation weitaus schwieriger. Ihr Image ist positiver, und sie werden vom Arzt verschrieben. Viele Betroffene könnten es sich daher kaum vorstellen, dass sie abhängig seien, schreibt die Deutsche Hauptstelle für Suchtgefahren (DHS). Schließlich nähmen sie die Schmerz- oder Beruhigungsmittel ja nicht, um sich in einen Rausch zu versetzen.

Vielen Menschen sei daher gar nicht bewusst, "dass sie von ihrem Medikament abhängig geworden sind", schreibt die DHS.

Erschwerend kommt hinzu, dass ältere Menschen mehr und häufiger Medikamente einnehmen. Forscher an der Uni Hamburg untersuchten die Verschreibung von Benzodiazepinen in Hamburg. Demnach wachse "mit zunehmendem Alter die Akzeptanz oder die Zuflucht in problematische Verschreibungssequenzen". Die Forscher stellten fest, dass beispielsweise bei mehr als jedem fünften über 80-jährigen Patienten eine "problematische Verschreibungssequenz" vorliege.

Auch wenn bei Ärzten und Pflegekräften die Sensibilität gestiegen sei, würden Benzodiazepine nach wie vor häufig eingesetzt, sagt Mediziner Stracke. Er fordert, die Medikamente maximal 14 Tage anzuwenden. "Ähnlich wie beim Alkohol werden Medikamente bei älteren Menschen langsamer abgebaut." Sinnvoll wäre es auch, die Menge der Medikamente zu reduzieren.

Die zu erwartende Zunahme von älteren alkohol- und medikamentenabhängigen Menschen stellt Pflegekräfte wie Suchthilfe vor neue Aufgaben. Und die Situation wird von den Beteiligten kritisch gesehen. Bei einer Befragung von Hamburger Pflegekräften beklagten 39,3 Prozent das Fehlen von Hilfsangeboten für ältere Menschen mit Suchtproblemen. Robert Stracke weiß aus eigener Erfahrung, dass ältere Menschen anders angesprochen werden müssen. "Ältere Menschen haben häufig viel höhere Schuld- und Schamgefühle", sagt er. "Die schämen sich zu Tode." Das Problem: "Die Schuldgefühle halten ältere Menschen oft davon ab, sich Hilfe zu holen."

Das Bundesgesundheitsministerium versucht jetzt, mit dem Projekt "Sucht im Alter" Pflegekräfte für das Thema zu sensibilisieren und zu qualifizieren. "Die Hamburger Alida-Schmidt-Stiftung hat dazu für Pflegekräfte ein Schulungskonzept entwickelt", sagt Geschäftsführerin Christina Baumeister. Neben dem Konzept sei es wichtig gewesen, Pflegedienste und Suchtberatung zusammenzubringen.

Denn es kann auch im hohen Alter lohnenswert sein, Sucht zu bekämpfen. "Das Gedächtnis wird wieder besser, die körperliche Fitness ebenso", sagt der Mediziner Stracke. Zudem zeigten Untersuchungen, dass ältere Menschen eher bereit sind, ärztliche Anweisungen zu erfüllen, und seltener eine Entziehungskur abbrechen.

Siegfried Kogge hat im Frühsommer vergangenen Jahres die zwölf Wochen in der Hanstedter Klinik durchgestanden. Jetzt helfen ihm auch Leidensgefährten bei den Anonymen Alkoholikern. "Mit den Leuten dort kann ich über fast alles reden", meint Kogge. Und wenn der Suchtdruck einmal zu groß wird - bei einer Geburtstagsfeier zum Beispiel? "Dann gehe ich einfach ."

* Name geändert