Klingt zumindest skurril: Chic essen gehen die Alsterdorfer in einem Toilettenhäuschen und um Öffnungszeiten scheren sich Wissbegierige dort nicht.

Alsterdorfer waschen gern schmutzige Wäsche. Mit der Hansestadt haben sie Ärger, weil sie ihr das Wasser abgraben. Sie treten ihren Stadtteil mit Füßen. Chic essen gehen sie in einem Toilettenhäuschen. Um Öffnungszeiten scheren sich Wissbegierige nicht. Und die Polizei hat in diesem Stadtteil entgegen der landläufigen Meinung kein Heimspiel.

Klingt nach rebellischen Käuzen. Passt überhaupt nicht zu den Vorstellungen, die viele von dem ruhigen Wohnquartier am dem Fluss haben, der zusammen mit der Elbe die Metropole prägt. Gehört aber doch ins Drehbuch über dieses Viertel - schließlich haben Bewegtbilder hier Tradition. Aber alles hat ja seine Zeit.

Hamburgs erstes Filmstudio

Die Alster ist heute Paradies für Jogger, Revier für Gassigeher und Raum für Ruderer - früher war sie ein Zankapfel. Im 18. Jahrhundert stand Alsterdorf noch unter dänischer Herrschaft. Die Bewohner bewirtschafteten Äcker und bauten Dämme, störten damit den Flusslauf und verärgerten die Hamburger, denen alle Rechte an der Alster gehörten. Also verboten sie ihnen das Wasserabgraben. Die Landwirtschaft blieb dennoch die wichtigste Erwerbsquelle. Der Hinschenhof steht noch heute für das bäuerliche Alsterdorf.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts spielte Wasser wieder eine wichtige Rolle. Vor allem an der Alsterdorfer Straße siedelte sich eine Reihe von Bleichereien und Wäschereien an; sie wurden neben der Landwirtschaft zum wichtigsten Wirtschaftszweig. Das Adressbuch von 1912 wies 26 Firmen aus.

Später versprühten die Vera-Filmwerke einen Hauch von Hollywood. Vor der Stummfilmkamera agierte UFA-Legende Emil Jannings in Hamburgs erstem Filmstudio, in dem von 1919 bis 1930 insgesamt 152 Spiel-, Kultur- und Zeichentrickfilme hergestellt wurden. Die Alsterkrugchaussee diente beispielsweise als Drehort für Autorennen, Szenen mit Fell- und Federvieh wurden in Hagenbecks Tierpark aufgenommen. Als die Filme das Sprechen lernten, kam das Aus für die Firma. Sie scheiterte beim Übergang zur Tontechnik und ging in den 1930er-Jahren in Konkurs.

Eine Stiftung als größter Arbeitgeber

Auf Wachstumskurs war hingegen die Evangelische Stiftung Alsterdorf (ESA). 1863 startete Pastor Heinrich M. Sengelmann im Alten Brauhof die Arbeit mit vier geistig behinderten Kindern. Es war die Keimzelle für eine der größten Behinderteneinrichtungen in Deutschland. Bei Sengelmanns Tod 1899 lebten bereits 600 Hilfebedürftige auf dem Gelände. Heute ist die ESA mit Abstand größter im Stadtteil beheimateter Arbeitgeber. Knapp 5700 Beschäftigte stehen bei ihr in Lohn und Brot und bieten Dienstleistungen rund um die Themenfelder Medizin, Pflege und Arbeit an. Mehr als 250 Millionen Euro Umsatz macht das diakonische Unternehmen, das der Volksmund gern noch als Alsterdorfer Anstalten bezeichnet, obwohl es seit 1988 unter dem neuen Namen firmiert.

Aus dem einst abgeschotteten Gelände ist heute ein offener Treffpunkt geworden. Jeden Freitag bauen Händler auf dem Alsterdorfer Markt ihre Stände auf und verkaufen Fleisch, Fisch, Obst und Gemüse. Im Frühjahr gibt es Osterfeuer, im Sommer Open-Air-Kino. Dabei trampeln die Alsterdorfer auch gern auf ihrem Stadtteil herum. Die Gullydeckel zeigen zwei Figuren, die sich an der Hand halten, darunter steht der Schriftzug Alsterdorf. Rund um den Platz locken Supermarkt, Discounter, Drogerie und Blumenladen zum Einkaufen, Eiscafé und Restaurant zum kulinarischen Genuss, und ein Reisebüro lässt Urlaubsträume wahr werden. Der Platz ist zum neuen Geschäftszentrum geworden und ergänzt das alte, das an der Alsterdorfer Straße zwischen Carl-Cohn-Straße und Heubergredder seinen Schwerpunkt hat. Und in dem viele Alteingesessene den Verlust von inhabergeführten Läden beklagen.

Schöner Wohnen am Wasser

Zwischen den beiden Einkaufsarealen erstreckt sich die Gartenstadt, in der es nicht nur nach Blumen riecht, sondern die Straßen mit Tulpenstieg und Frühlingsgarten auch wohlklingende Namen haben. Mitte der 1930er-Jahre bauten hier Selbstständige, Angestellte und Beamte insgesamt 304 Einzelhäuser aus rotem Backstein. Die Gebäude durften nicht mehr als zwei Geschosse haben, Fabriken waren verboten, alte Bäume mussten erhalten bleiben. Die Grundstücke sollten mit maximal 500 Quadratmetern bewusst klein gehalten werden, um möglichst vielen Interessenten den Traum vom Eigenheim zu erfüllen.

Über städtisch verordnete größere Gärten konnten sich jene Hausbesitzer freuen, die direkt an der Alster wohnten. Bis ins 20. Jahrhundert hinein schlängelte sich der Fluss in zahlreichen Windungen vorbei an tief hängenden Weiden und knorrigen Eichen durch eine Wiesenlandschaft, die durch Schneeschmelze und bei starken Regenfällen regelmäßig überflutet wurde. Um die Wasserstraße als Frachtweg zu nutzen, beschloss der Senat, sie in geordnete Bahnen zu lenken. Die Kosten für die Kanalisierung wollte die Finanzdeputation über den Verkauf von Villengrundstücken wieder hereinholen. Deshalb wurden neue Wassergrundstücke geschaffen, "da dieselben in den wohlhabenden Kreisen der Bevölkerung besonders beliebt" wären. An dieser Feststellung von 1908 hat sich nichts geändert. Durch den Bau von Seitenkanälen entstanden drei Inseln, ihre Grundstücke an der Insel-, Rathenau- und Brabandstraße zählen noch heute zu den gefragten Adressen - und die Villen zu den schönsten im Stadtgebiet.

Zwei Irrtümer halten sich hartnäckig

Zwischen Alsterdorfer Damm und Brabandstraße entstand 1919 das Trafohäuschen. Zum einen sollte in ihm Strom auf eine niedrigere Spannung umgewandelt werden, den Haushaltskunden nutzen konnten. Zum anderen wurde der Bau gebraucht, um eine öffentliche Toilette zu beherbergen. In der jüngeren Zeit stand das Gebäude allerdings viele Jahre leer, ehe 2010 ein Bistro mit Weinbar dort eröffnete. Carpaccio, Garnelenpfanne und hausgemachter Schokokuchen sind einige der Leckerbissen, die die Gäste im Sommer auch auf der Terrasse genießen können.

Wer anschließend noch Lust auf Bildung hat, muss nur einmal die Straßenseite wechseln. Auf der Brücke steht in einer Art Vogelhäuschen eine kostenlose Bibliothek, deren Tür sich rund um die Uhr öffnen lässt. Das Prinzip beruht auf dem Tauschhandel: Stelle ein Buch hinein und nimm ein anderes heraus. Vertrauen ist bekanntlich gut - und Kontrolle in diesem Fall auch nur schwer möglich.

Zwei Irrtümer seien übrigens noch aufgeklärt: Alsterdorf ist weder der Stadtteil der Gesetzeshüter, noch ist dort die Bühne für Stars und Sternchen aus Sport und Showbusiness. Das Polizeipräsidium wird zwar ebenso wie die Sporthalle mit dem Stadtteil häufig in einem Atemzug genannt - beide gehören aber zu Winterhude.

In der nächsten Folge am 22.10.: Wilstorf

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