Langenbek ist wohl das unbekannteste Viertel Hamburgs. Dafür gibt es dort aber das wohl bekannteste Zwergenhaus der Republik.

Es war wohl so eine Art Hassliebe, das mit Heinz Strunk und Langenbek. "Irgendwie war alles eng und winzig", schreibt der Autor in seinem Kultbuch "Fleisch ist mein Gemüse". "Straßen, Gärten, Häuser, ja selbst Bäume, Pflanzen und Haustiere wirkten eine Nummer kleiner als anderswo." Er lästert über den "Außenbezirk" von Harburg, in dem er mit seiner Mutter ein 60-Quadratmeter-Reihenhaus bewohnte, und darüber, dass die Straßen der Siedlung "ausschließlich nach niedersächsischen Provinzkäffern" wie Walsrode oder Bispingen benannt seien. Und doch kehrte er nach seinen skurrilen Auftritten als Musiker auf den Bretterbühnen ebenjener Provinznester immer wieder hierher zurück: "Ich gehörte nach Harburg!" Strunk schreibt "Harburg", denn Langenbek, das kennt ja niemand.

Die Keimzelle war ein einzelner Hof

Tatsächlich ist der viertkleinste Hamburger Stadtteil den allermeisten Bewohnern der großen Hansestadt völlig unbekannt - was den meisten Langenbekern wiederum völlig egal ist. Sie wollen hier ihre Ruhe haben, auf Schickimicki à la Eppendorf können sie verzichten. Die Frage nach der Herkunft beantworten viele daher wie Strunk mit "Harburg", was ja nicht falsch, sondern nur unpräzise ist. Wer es genau wissen will, kann ja nachfragen.

Und das lohnt sich. Denn jenseits von "Fleisch ist mein Gemüse" hat Langenbek noch eine ganz andere Seite, und über die weiß kaum jemand so viel wie Ilse und Hermann Riege. Aus ihrem Haus blicken sie gen Norden auf einen Wald mit mächtigen Buchen und gen Westen auf Wiesen, durch die sich die Engelbek windet. Eine Idylle, die nicht von ungefähr kommt. Denn der Hof der Familie Riege gilt als Keimzelle Langenbeks, 1450 erstmals erwähnt als "Langenbeke de Meyersche Hof".

Erst im 19. Jahrhundert wurde aus dem Hof langsam ein Dorf - 1888, zu einer Zeit, als viele Hamburger dicht gedrängt in Gängevierteln hausten, hatte die niedersächsische Gemeinde Langenbek ganze 148 Einwohner. Kurz vor der Eingemeindung nach Hamburg 1937 waren es immerhin gut 400. Annegret Riege, Tochter von Ilse und Hermann, schrieb noch 1975 in einem Schulaufsatz: "Wenn mein Großvater früher das Land bearbeitete, hat er oft Tonscherben mit ausgepflügt."

Wohngebiet für 2000 Menschen

Mit dem bronzezeitlichen Grabhügel im Wäldchen gibt es zwar ein letztes Zeugnis für die frühere Besiedelung der Gegend. Aber prägend für den Stadtteil ist heute die rasante Entwicklung nach dem Krieg. Nach und nach gab die Familie Riege die Bewirtschaftung ihrer 120 Hektar Land auf. "Intensive Landwirtschaft war in der Stadt nicht mehr möglich", erinnert sich Ilse Riege mit Wehmut. Auf den Feldern und Wiesen entstanden in den 50er- und 60er-Jahren mehrere Hundert Reihenhäuser - unter anderem jenes "Zwergenhaus", das Heinz Strunk literarisch verewigte.

Abgeschlossen wurde diese Entwicklung hin zum dichtestbesiedelten Stadtteil Harburgs von 1987 bis 1994 mit der Erschließung des "Langenbeker Felds". Dessen Überreste bilden die grüne Lunge des Stadtteils - inklusive des wunderbaren Waldspielplatzes. Die Interessengemeinschaft Langenbeker Feld setzte sich damals sehr für Infrastruktur in dem neuen Wohngebiet für 2000 Menschen ein. Ihr ist es zu verdanken, dass die Bewohner von Gordonstraße oder Blättnerring wenigstens eine eigene Bushaltestelle bekamen.

1992 wurde am Blättnerring auch eine Einrichtung eröffnet, die Langenbek 20 Jahre später einige Schlagzeilen bescheren sollte - das "Haus am Wäldchen" der evangelischen Kirchengemeinde Sinstorf. Sie hatte ursprünglich sogar erwogen, im Langenbeker Feld eine eigene Kirche zu errichten, beließ es dann aber doch bei einem Gemeindehaus, das fortan zum Stadtteiltreffpunkt wurde. Ob Kinderkrabbelgruppe oder Seniorengymnastik, Kinderchor oder eigene Gottesdienste für die vielen Russlanddeutschen, die nach der Wende in Langenbek und Umgebung eine neue Heimat fanden - im Haus am Wäldchen gab es das alles. Bis 2012.

Anwohnerprotest gegen ein Hospiz

Dann verkaufte die finanziell klamme Kirche das Haus an das Rote Kreuz. Dieses investiert drei Millionen Euro, um das Gebäude bis 2013 in ein Hospiz für Sterbenskranke umzubauen. Der Protest einiger weniger Anwohner, die schon die Leichenwagen in ihrer beschaulichen Gegend Schlange stehen sahen und einen Wertverlust ihrer Häuser beklagten, bescherte Langenbek viel Aufmerksamkeit - sogar dem "Spiegel" war das eine Geschichte wert. Pastorin Hella Lemke war um Ausgleich bemüht: "Das Haus hat bislang segensreich für den Stadtteil gewirkt, das wird es auch künftig", sagt sie. "Sterben ist nur ein anderer Teil des Lebens." Viel mehr Sorgen bereitet ihr, ob die früheren Nutzer des Gemeindehauses die zur Sinstorfer Kirche verlagerten Angebote annehmen werden.

Dabei ist es für die Langenbeker Alltag, ihren Stadtteil verlassen zu müssen. Denn abgesehen von einigen Geschäften für den täglichen Bedarf fehlt es hier an allem - Ärzte, Sportvereine, soziale Einrichtungen, Kneipen: alles Fehlanzeige. Und vieles, was dem Namen nach den Anschein erweckt, zu dem Stadtteil zu gehören, liegt in Wahrheit jenseits der Grenze: So gehört der Langenbeker Friedhof zu Sinstorf, der Tennisklub Langenbek liegt in Marmstorf, und selbst die Grundschule und der Kindergarten an der Scheeßeler Kehre liegen auf Sinstorfer Gebiet, obwohl die Langenbeker sie als "ihre" Schule und "ihre" Kita betrachten. Schicksal eines winzigen Stadtteils.

Aus Bobbycars werden Autos

Das Fehlen einer Infrastruktur könnte auf mittlere Sicht zum Problem werden. "Langenbek wird älter", sagt Pastorin Lemke. "Früher standen überall Bobbycars vor den Häusern, dann Fahrräder und Mofas. Jetzt stehen vor vielen Häusern drei Autos." Die Entwicklung ist nur logisch. Nach Langenbek zogen und ziehen wegen der ruhigen Lage und der relativ günstigen Immobilienpreise fast nur Familien mit Kindern. Und wenn die Kinder aus dem Haus sind, bleiben früher oder später Rentner.

Einen Mittelbau aus Singles, kinderlosen Paaren oder gar Studenten gibt es kaum. Der örtliche Schützenverein löste sich 2010 auf - fehlender Nachwuchs. So gesehen ist die Umwandlung des Gemeindehauses in ein Hospiz auch ein Sinnbild für einen alternden Stadtteil. Ein Makel muss das aber nicht sein. Ilse und Herrmann Riege, beide hoch in den 80ern, sorgen zum Beispiel für leuchtende Kinderaugen, weil sie ihre Wiesen an der Engelbek nicht per Rasenmäher kürzen, sondern das zwei bunt gescheckten Kühen überlassen.

Ein kleines Großstadtidyll, das vielleicht auch Heinz Strunk mitunter wehmütig an seine Langenbeker Zeit denken lässt. Jedenfalls bekennt er am Ende seines Buches: "Ich fahre mindestes einmal im Jahr dorthin und mache einen kleinen Spaziergang."

In der nächsten Folge am 20.10.: Alsterdorf