Hier schlagen zwei Herzen, schmettern seltene Vögel und baggern Frauen um die Wette. Auch Hamburgs höchste Erhebung findet sich hier.

Mit dem ersten Eindruck ist das so eine Sache. Bei der Partnerwahl. Im Berufsleben. Auf Entdeckungsreise. Wenige Sekunden entscheiden darüber, ob uns etwas gefällt oder nicht, jemand als sympathisch oder unsympathisch empfunden wird. Wahrgenommen und zack - ab damit in eine Schublade. Für Hamburgs südwestlichsten Stadtteil bedeutet dieser Effekt keine gute Ausgangsposition. Denn wer als Ortsfremder über die B 73 in den Stadtteil rauscht und kurz darauf das Zentrum von Neugraben erreicht, fällt in der Regel ein negatives Urteil.

Schön ist die Szenerie wirklich nicht, die sich da bietet rund um den S-Bahnhof, das marode Süderelbe-Einkaufszentrum (SEZ) und die vor sich hin darbende Fußgängerzone mit ihren Ein-Euro-Shops und Billig-Bäckern. Seit Jahren versuchen Kommunalpolitiker wie ansässige Geschäftsleute, der Gegend neues Leben einzuhauchen, doch gebracht hat dieses Engagement wenig. Flair kommt nur an den Markttagen auf. Die Stände vor der Polizeiwache bieten nicht nur Abwechslung zum Discounter-Einerlei, sie sind auch sozialer Treffpunkt. Hier sieht man sich, hier tauscht man sich aus. Zum Beispiel über nördlich der Elbe wohnende Hamburger, die häufig keine Vorstellung von der Lebenswirklichkeit hier im Süden haben.

Nach wenigen Metern eine andere Welt

Womit wir wieder beim Schubladendenken und dem ersten Eindruck wären, der so schnell nicht zu korrigieren ist. Ein Dilemma, denn nur wenige Meter nördlich oder südlich der lauten B 73 sieht die Welt an vielen Stellen ganz anders aus als rund um das Nahversorgungszentrum mit seinem bröckelnden 70er-Jahre-Charme. Ruhige Wohnstraßen prägen dort das Geschehen. Wer sich vom ersten Eindruck nicht hat abschrecken lassen, kann sogar den dörflichen Charakter früherer Zeiten entdecken, als die Bundesstraße ein Sandweg war und Provinzial-Chaussee hieß.

Weil Neugraben und Fischbek damals eigenständige Gemeinden waren, existieren zwei historische Ortskerne mit einigen denkmalgeschützten Häusern aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert. Rund um die Francoper Straße und im Neugrabener Dorf ergibt sich durch Kopfsteinpflaster, uralte Bäume und reetgedeckte Katen ein überaus angenehmer Kontrast zu den Betonsünden an anderen Stellen des Stadtteils. Aus dem Jahr 1776 stammt beispielsweise das liebevoll restaurierte Gasthaus Zur Börse. Auch in Fischbeks Zentrum sind zwischen Posteck und Fischbeker Weg noch urige Bauernhäuser erhalten.

Großstadttypisch endet jene Postkartenidylle dort, wo viele Menschen auf engem Raum leben. Zum Beispiel in der Sandbek-Siedlung am S-Bahnhof Fischbek, die in der Vergangenheit durch Gewalt und Verbrechen als sozialer Brennpunkt in Verruf geriet. Mittlerweile, sagen Ur-Neugrabener, gehe es dort merklich ruhiger zu.

Auf ihre eigene Art idyllisch kommt heutzutage die Falkenberg-Siedlung mit ihren unter Milieuschutz stehenden Flachbauten daher, wenngleich ihre Entstehungsgeschichte alles andere als beschaulich und friedvoll ist. 1944 mussten im KZ Neuengamme inhaftierte tschechoslowakische Jüdinnen beim Bau der Behelfswohnheime mitarbeiten, aus denen die Siedlung ursprünglich bestand. Während dieses dunkle Kapitel der Stadtteilgeschichte historisch verbrieft ist, wird bei anderen Überlieferungen rund um den Namen gebenden Falkenberg die Wahrheit wohl nicht mehr ans Licht kommen.

Es sei denn, es findet noch jemand den Schatz, den der Freibeuter Klaus Störtebeker angeblich am Falkenberg vergraben haben soll. Der Sandhügel, für Hamburger Verhältnisse stattliche 64,8 Meter hoch, befindet sich übrigens in einer wunderschönen Landschaft, die nicht nur Neugrabener anzieht - in der Fischbeker Heide.

Hamburgs höchste Erhebung

Nur wenige Hundert Meter Luftlinie von der B 73 entfernt erstreckt sich das 773 Hektar große Naturschutzgebiet, das wie die Lüneburger Heide ein Werk des Menschen ist. Heutzutage dient das Areal vor allem der Naherholung. Für Wanderer, Jogger und Radfahrer gibt es interessante, teilweise durchaus anspruchsvolle Strecken. Im hügeligen Gelände gilt es nämlich nicht nur den Falkenberg zu erklimmen. Der Hasselbrack ist mit 116 Metern so etwas wie der Montblanc Hamburgs, die höchste Erhebung der Hansestadt. Die größten Heideflächen befinden sich in einem Bereich, in dem auch bodenständige Menschen abheben können. Neugraben-Fischbek verfügt über einen eigenen Segelflugplatz.

Deutlich kleinere Flugobjekte sorgten im zweiten zum Stadtteil zählenden Naturschutzgebiet für Rabatz. Ob der gefährdete Wachtelkönig tatsächlich sein charakteristisches "rerrp-rerrp" im Moorgürtel erklingen lässt, ist allerdings umstritten. Gesehen hat den Vogel nämlich noch niemand. Die Mutmaßung, dass er sich in Neugraben-Fischbek aufhalte, reichte jedoch für lebhafte Diskussionen über Bauvorhaben. Und für die Verewigung im Adressenverzeichnis.

Zum Wachtelkönig heißt eine der neu angelegten Straßen im Baugebiet Elbmosaik, in dem sich auch das neue Bildungs- und Gemeindezentrum (BGZ) samt Großsporthalle befindet. Bis zu 2500 Zuschauer können dort verfolgen, wie sich die Volleyballerinnen des VT Aurubis durch die Bundesliga schmettern. Mit dem Kulturhaus im BGZ wurde auch das örtliche Angebot in den Bereichen bildende Kunst, Musik, Theater, Bewegung, Literatur und Sprache erweitert.

Finanzkräftige Zuzügler erwünscht

Da es auch an Schulen und Spielplätzen nicht mangelt, mit dem Elbmosaik und auf dem Gelände der ehemaligen Röttiger-Kaserne zudem Platz für Neubauten geschaffen wurde, dürfte die Einwohnerzahl steigen. Eines sollte Neuankömmlingen klar sein: "Neugraben-Fischbeker sind geradeheraus", sagt Jürgen Lohse, der eine Internetseite über seinen Stadtteil betreibt. "Hier zeigt man klare Kante."

Von den Zuzüglern erhofft man sich die nötige Finanzkraft, um die Attraktivität für Geschäftsleute zu steigern. Neugraben-Fischbek soll schließlich künftig auch schon mit dem ersten Eindruck punkten können. Bis dahin bleibt der Stadtteil Kandidat für eine Liebe auf den zweiten Blick.

In der nächsten Folge am 6.10.: Blankenese