Mit einer neuen Strategie will Scientific in Lohbrügge aus den roten Zahlen. Weltmarktführer für anatomische Lehrmittel setzt auf das Ausland.

Hamburg. Henrike Hildner ist für die Muskelfiguren zuständig. Bevor sie diese zusammensetzen kann, müssen die Einzelteile erhitzt werden, um die Verbindungselemente leichter im Kunststoff platzieren zu können. Kollege Philip Uebelacker hilft ihr dabei, indem er die Arme in einem Ofen auf 80 Grad erhitzt. Erst danach können mehrere rote Muskeln an dem Arm befestigt werden. Schritt für Schritt entsteht so innerhalb von drei Wochen eines der Spitzenprodukte beim Weltmarktführer für anatomische Lehrmittel 3B Scientific in Hamburg-Lohbrügge mit weltweit 800 Mitarbeitern. Die knapp 1,40 Meter große Muskelfigur für die medizinische Ausbildung ist eines von insgesamt 6000 Produkten und kann in 45 Einzelteile zerlegt werden. Medizinstudenten können auch in das Innere von Magen, Lunge, Herz oder Niere schauen. Muskelfiguren, Skelette, Torsos und Organmodelle werden in mehr als 100 Länder exportiert. Kürzlich wurde eine Niederlassung in Korea eröffnet. Also alles bestens?

Leider nicht. Geschäftsführer Otto H. Gies hat im Moment Probleme. Bereits das dritte Jahr schreibt das Unternehmen rote Zahlen. "Erst im nächsten Jahr werden wir die Gewinnschwelle wieder erreichen und auf den Wachstumspfad zurückkehren", sagt Gies. Bereits in diesem Jahr soll der Umsatz wieder um zehn Prozent auf 65 Millionen Euro steigen. Da das Unternehmen über eine hohe Eigenkapitalquote verfügt, ist diese Verlustphase nicht existenzbedrohend. Auf einer Betriebsversammlung wurden die 150 Mitarbeiter in Hamburg über die Lage informiert. "Wir planen keine Entlassungen", versichert Gies Aber bei den Führungskräften, die erfolgsabhängig entlohnt werden, gibt es Gehaltsreduzierungen.

Eine solche Krise ist ungewöhnlich für das Unternehmen. Mit den Produkten und der starken Marktstellung hat das nichts zu tun. 90 Prozent der Produkte werden exportiert. Allein in Japan, das über zwei eigene Hersteller verfügt, liegt der Marktanteil von 3B Scientific bei 50 Prozent. 1997 fasste Gies dort Fuß, bis 2006 war der Durchbruch geschafft. Dabei hat sicherlich auch geholfen, dass er selbst japanisch spricht. "Man muss bereit sein, auf die Kundenwünsche einzugehen", lautet einer seiner einfachen Leitsätze. "So haben wir extra ein Baby für den japanischen Markt entwickelt", sagt Gies.

Die aktuellen Schwierigkeiten haben andere Ursachen. "Wir haben die Probleme bei der Einführung einer neuen Software im Unternehmen unterschätzt", sagt Gies. Das habe hohe Kosten verursacht und sehr viel Kapazität gebunden. "Die Mitarbeiter haben dabei Außerordentliches geleistet." Es war sehr schwierig, das Programm an allen europäischen Standorten des Unternehmens zu implementieren, und dazu sollte jeder auch noch in seiner Landessprache damit arbeiten können.

Doch jetzt blickt Gies wieder nach vorne: "Neue Märkte zu erschließen ist für uns ganz wichtig." Zwischen 2000 und 2009 wurden jeweils Wachstumsraten von zehn Prozent erzielt. "In Europa sind die Märkte gesättigt, es gibt nur Ergänzungs- und Ersatzbedarf", sagt Gies. In Spanien sank der Umsatz sogar um 30 Prozent.

Für die Auswahl neuer Märkte hat Gies eine einfache Formel: Die Länder müssen mehr als 100 Millionen Einwohner haben oder mindestens ein Bruttosozialprodukt wie Spanien. Auf seiner Liste stehen deshalb Länder wie Mexiko, Indien, Indonesien und Südafrika. Bereits aktiv ist das Unternehmen unter anderem in den USA, Russland, Italien, Spanien, Thailand und Großbritannien. Gies hat die Erfahrung gemacht, dass mit eigenen Niederlassungen der Markt wesentlich besser erschlossen werden kann als über Handelsvertreter.

Gerade ist er dabei, in der Türkei eine Niederlassung mit bis zu fünf Mitarbeitern zu gründen. "Länder wie die Türkei oder Korea investieren stark in ihre Bildung", sagt Gies, der weltweit die Startphase von Niederlassungen persönlich betreut, weil er sich sehr schnell in fremde Kulturen einleben kann. Mitunter entstehen dann auch persönliche Freundschaften wie in China. "Wir versuchen stets für die Niederlassungen einheimische Mitarbeiter zu gewinnen", sagt Gies. Im gesamten Unternehmen liegt der Anteil der ausländischen Mitarbeiter und der mit Migrationshintergrund bei 50 Prozent. "Das ist eine echte Bereicherung für das Unternehmen", sagt Gies.

Seit mehr als 50 Jahren ist das Skelett Stan ein Verkaufsschlager. Es wird aus Kostengründen in China und Ungarn hergestellt. Dagegen entsteht die Luxusvariante "Sam" in Hamburg. Sam besitzt Gelenkbänder, handbemalte Muskelansätze, eine flexible Wirbelsäule plus eingebauten Bandscheibenvorfall zwischen dem dritten und vierten Lendenwirbel. "Er kann sogar lachen", sagt Gies und bewegt den Kiefer des Skeletts.

Noch werden 30 Prozent der Produkte in Deutschland gefertigt, obwohl der deutsche Markt nur zehn Prozent der Fertigung abnimmt. Im Inland gibt es neben Hamburg noch Fertigungsstätten in Dresden und Klingenthal. Vor allem die ostdeutschen Standorte hebt Gies wegen ihrer hohen Produktivität hervor. Dabei schien der Start der 1991 übernommenen ehemaligen Lehrmittelanstalt des Deutschen Hygienemuseums in Hamburgs Partnerstadt Dresden hoffnungslos. Die Kosten lagen bei 150 000 D-Mark und die Einnahmen bei 25 000 D-Mark, erinnert sich Gies.

Neben anatomischen Lehrmitteln stellt 3B Scientific auch physikalisch-technische Lehrmittel und Systeme her. Dieser Bereich wächst deutlich schneller als der Anatomiebereich. Was früher in komplizierten Versuchsaufbauten ermittelt werden musste, kann heute mit einem Programm für das Smartphone realisiert werden, etwa wenn die Wasserqualität im Schulversuch bestimmt werden soll.

Im anatomischen Bereich geht die Entwicklung immer stärker in Richtung Simulation. So gibt es Körpermodelle, in denen Geschwülste schon eingearbeitet sind, oder eine lebensgroße Krankenpflegepuppe. Eine besondere technische Entwicklung ist der Geburtssimulator Simone, der in Hamburg gefertigt und auch im UKE zur Ausbildung genutzt wird. Mit ihm kann eine Entbindung geübt werden. Am Bildschirm wie am Modell kann eine Geburt - wie auch Komplikationen - simuliert werden, bei der sich tatsächlich ein Kinderkopf aus der Vulva schiebt und bei Bedarf mit der Zange nachgeholfen werden kann. Ein weiterer Wachstumsbereich für das Hamburger Unternehmen sind Akupunkturnadeln und Laserinstrumente.

Doch schon denkt Gies an ganz neue Technologien, die Kunststoffmodelle überflüssig machen können. Hologramme werden es in einigen Jahren ermöglichen, einen Menschen Schicht für Schicht zu entblättern.