Die Mutter wollte ihn nicht - der heute 18-Jährige lebte in Heimen und bei Pflegefamilien. Ein Betreuer soll sich jahrelang an ihm vergangen haben.

Eidelstedt. Selbst wenn er im Zimmer sitzt, ist von David (Name geändert) kaum etwas zu sehen. Der Junge, 1,90 Meter groß, schlank, blond, verschanzt sich in einem großen Fernsehsessel und dreht die Lehne zu den Besuchern. Er beschäftigt sich mit dem Telefon. Seine Welt ist klein. Meist hat er sie nur für sich.

David ist am 31. Juli volljährig geworden. Von jugendlicher Unbekümmertheit und Selbstbewusstsein aber fehlt jede Spur. Obwohl er äußerlich ein stattlicher junger Mann sein könnte. Tag für Tag spielt er hinter geschlossenen Jalousien mit seiner Playstation. Es gibt keine Freunde in seinem Leben, Träume auch nicht. Schon lange nicht mehr. Stattdessen Traurigkeit, Wut, manchmal Hass im Überfluss. Nachts setzt sich David die Kopfhörer auf und geht durch Eidelstedt, den Stadtteil, in dem er lange Jahre lebte und jetzt wieder lebt. Er geht und geht, legt rastlos ungezählte Kilometer zurück, ehe er in den Schlaf findet. Und auch dann schrecke er manchmal schreiend hoch, berichtet seine Tante Alexandra, die auch mal seine Pflegemutter war. Als Kind hatte der jetzt 18-Jährige schwerste traumatische Erfahrungen machen müssen. Seine leibliche Mutter lehnte ihn ab, wollte ihn zurück und doch wieder nicht, ließ Dinge zu, die nicht hätten geschehen dürfen. Schon nach wenigen Lebenswochen kam er in die erste Pflegefamilie. David musste sie verlassen, weil der Pflegevater erkrankte. Mit eineinhalb kam er zu seiner Tante, wo er dann erstmals so etwas wie eine belastbare Bindung aufbauen konnte. Für Normalität war es da aber schon zu spät. Doch die größte Katastrophe, sie sollte sich erst Jahre später ereignen.

Schon als Zweijähriger habe David kaum etwas heil gelassen, berichtet Diplom-Psychologin Gabriele Hesse. Er habe sogar seine Bettdecken zerrissen. Die Mitarbeiterin des Vereins "Freunde der Kinder" hatte der neuen Familie des Jungen schon damals mit Rat und Tat zur Seite gestanden - und macht es heute immer noch. Sie erlebte die Geschichte dieses jahrelangen Kampfes als enge Beraterin mit. Da die leibliche Mutter des Jungen nach Ludwigshafen gezogen war, hatte das dortige Jugendamt die Vormundschaft für den Jungen inne. Das Amt in der Rheinstadt bat das Jugendamt Eimsbüttel um Amtshilfe. Ein normaler Vorgang, um die langen Distanzen zu überbrücken. Die fachliche Aufsicht und die praktische Betreuung gingen also auf die Hamburger Behörde über. Die Vormünderin in Ludwigshafen behielt die Verantwortung, wurde über Entwicklungen in Kenntnis gesetzt.

"Davids erste Betreuerin hat sich toll um unseren Jungen gekümmert", sagt Alexandra K., die ehemalige Pflegemutter. David, bei dem schwerste ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung), diagnostiziert worden war, besuchte integrative Schulen, kämpfte sich durch den Stoff, lernte lesen und rechnen. Die Familie fühlte sich trotz aller Probleme gut aufgehoben.

Im April 2008 wurde die Betreuerin, damals 55, in ihrem Amtszimmer am Grindelberg von einer psychisch kranken Mutter niedergestochen. Die Sachbearbeiterin wurde schwer verletzt und dienstunfähig. Ein tragischer Zwischenfall, der hamburgweit Aufsehen erregte - und auch für David von weitreichender Bedeutung war. Eine neue Betreuerin übernahm seinen Fall. Auch der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) wurde mit seinen Geschicken befasst.

Zeitgleich wurde der Zustand in der Pflegefamilie, die drei eigene Kinder hat, schwieriger. "Der Druck hat uns zermürbt", sagt Alexandra K. heute. "David wurde gewalttätig, legte Feuer, stand auf den Bahnschienen und sprang in letzter Sekunde zur Seite, als ein Zug kam. Es war der Wahnsinn. Aber wir wollten es gemeinsam schaffen." Sie schafften es nicht. Das Ehepaar trennte sich. "Wir dachten, für David wäre es besser, vorübergehend an einem ruhigeren Ort untergebracht zu sein", sagt Alexandra K. Das Wort "vorübergehend" betont sie. Wieder war für David eine Welt zerbrochen. "Vielleicht hätten wir noch mehr kämpfen müssen. Ich werfe mir das heute vor", sagt sie. Das Ehepaar hat zwischenzeitlich wieder zusammengefunden. "Sie hat sich nichts vorzuwerfen, sagt Psychologin Hesse vom Verein Freunde der Kinder "Solche Situationen entstehen, wenn eine Beziehung derartigen Belastungen ausgesetzt ist."

Nach einem einjährigen Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des UKE, wo das ADHS des Jungen behandelt werden sollte, kam David in eine Einrichtung an der Kieler Straße. "Wir wollten den Kontakt zu David aufrechterhalten, aber uns wurde mitgeteilt, dass wir eine 'Maßnahme' gewesen seien - und dass diese Maßnahme jetzt beendet sei", sagt Alexandra K. Dies sei beileibe kein Einzelfall, sondern gängige Behördenpraxis, sagt Freunde-der-Kinder-Mitarbeiterin Hesse. Doch in diesem Fall sei offenbar besonders viel Energie darauf verwendet worden, Gespräche zwischen der Ex-Pflegemutter und dem Jungen zu verhindern, obwohl beide sie gewollt hätten. Es kam zu einer Art Kontaktsperre. David riss oft aus und rannte nach Eidelstedt. Damals war er noch nicht einmal 13 Jahre alt. Er besuchte weiter eine integrative Schule.

Geraume Zeit später sollte der Junge ein erstes Berufspraktikum machen. Die familienähnliche Einrichtung, in der er jetzt wohnte, suchte für ihn, gemeinsam mit den zuständigen Behördenstellen, ausgerechnet einen Kindergarten aus. Der Amtsvormund bewilligte das Praktikum. "Das ist nahezu unverantwortlich", sagt Dr. Andreas Krüger, Kinder- und Jugend-Trauma-Experte und Gründer des Vereins Ankerland - Hilfe für traumatisierte Kinder. Der Umgang mit kleinen Kindern hätte nur unter enger Aufsicht geschehen dürfen. Jugendliche wie David, so der Arzt, würden oft in Momenten, in denen sie mit kleinen Kindern umgeben seien, unbewusst, wie in Trance, Dinge tun, die sie eigentlich nicht wollten, die aber tief in ihnen schlummerten, weil sie ihnen vielleicht selbst angetan wurden. Danach würden sie sich nicht daran erinnern, so der Arzt. David hat Kinder unsittlich berührt.

Die Konsequenz folgte prompt: David musste Sozialstunden leisten, wurde aus der Einrichtung an der Kieler Straße genommen. Zu seinen dortigen Pädagogen und Mitbewohnern hatte er ohnehin keinen Zugang gefunden. Doch zu seiner Tante durfte er nicht zurück. Ohne dass seine Verwandten dies wussten, holte ein Betreuer eines Heims im Kreis Rendsburg-Eckernförde David gemeinsam mit der neuen Betreuerin des Jugendamts ab. Man fuhr Richtung Norden durch Wiesen und Felder. 140 Kilometer weit. In ein winziges Dorf nahe der Ostsee. Dort steht ein Jugendheim für bis zu zwölf verhaltens- und entwicklungsgestörte Kinder. Einer der dortigen Betreuer: Wolfgang A. Er sollte sich in Vollzeit um David kümmern. Und tat dies, so die Vorwürfe zutreffen, offenbar vor allem eigennützig.

David und Alexandra K. berichten, sie hätten so gut wie keinen Kontakt mehr miteinander haben können. Wenn die Familie im Heim anrief, sagte Wolfgang A., David schlafe schon, sei gerade nicht da oder wolle nicht sprechen. Ihm sei das Handy abgenommen worden, sagt David. Er habe nicht ohne Aufsicht telefonieren können. Der Betreuer habe ihm mitgeteilt, dass seine frühere Familie nichts mehr von ihm wissen wolle, er sei jetzt der einzige Mensch, der noch für ihn da sei. Der mittlerweile 62-Jährige nahm ihn vom Heim mit nach Hause und in den Urlaub. David erwies sich als kaum noch beschulbar. Er lernte quasi nichts mehr, der Unterricht beschränkte sich auf wenige Stunden in der Woche. Alexandra K. sagt: "Wenn David uns hätte anrufen können, dann hätte er gewiss von den Dingen erzählt, die er dort erlebte und die ihn belasteten." Es könne nicht sein, dass ein Mann die seelische Krankheit eines Kindes so für sich ausnutze.

Die Betreuerin des Jugendamts besuchte David in diesen Jahren ein- oder zweimal. Halbjährliche Hilfeplangespräche in Hamburg fanden in Hamburg statt - immer in Begleitung des Betreuers A.

Weihnachten 2011, dreieinhalb Jahre nach der Einweisung ins Heim, stand David vor der Tür seiner Ex-Pflegefamilie in Eidelstedt, inzwischen siebzehneinhalb Jahre alt. Er hatte das selbst durchgesetzt. "Er war ein Wrack", erinnert sich der Pflegevater. David sagte, er werde eher unter einer Brücke schlafen, als in das Heim zurückzugehen. Wolfgang A. habe ihn missbraucht. Nicht einmal, immer wieder.

"Wenn es unter dem Angebot der Fürsorge zu Übergriffen kommt, wird die Grundstörung aufs Dramatischste verschärft", sagt Mediziner Krüger. Wenn also David gedacht habe, Wolfgang A., heute 62, sei tatsächlich der einzige Mensch, der noch an seiner Seite stehe - und es kam in dieser Situation zum wiederholten Missbrauch - dann habe endgültig irreparabler Schaden an der Seele des Jungen entstehen können. "Es braucht umfangreichster Therapien, um solchen Patienten langfristig eine Perspektive bieten zu können", sagt Krüger.

Die Mitarbeiter des Jugendamts seien geschockt gewesen, als der Missbrauchsverdacht bekannt geworden sei, sagt Stephan Glunz vom Bezirksamt Eimsbüttel. Fakt sei, dass es bis Juni 2010 keine klare gesetzliche Regelung über Mindestbesuchszahlen gegeben habe. "Die Jugendämter waren in dieser Zeit massiv überlastet und haben das auch immer wieder selbst angemahnt", sagt Glunz. Inzwischen habe sich die personelle Ausstattung gebessert. Statt 70 haben die Vormünder jetzt 30 bis 35 Fälle zu betreuen. Ein Amtsversagen sei nicht gegeben. Zunächst hatte es allerdings Bestrebungen gegeben, David in das Heim zurückzuschicken, nachdem er zur Tante geflohen war. Ein Antrag der Familie, ihn in Kurzzeitpflege zu nehmen und somit die Verantwortung für den Jungen wieder an sich zu ziehen, wurde vom Vormund abgelehnt.

Der Pädagoge Udo K., der Leiter des Heims, sagt, er habe sofort reagiert, als er von den Vorwürfen gehört habe. Er hat Wolfgang A. gefeuert. Die Staatsanwaltschaft Kiel führt die Ermittlungen. Die Computer des Verdächtigen müssen noch ausgewertet werden. "Wir halten die Angaben des Betroffenen für glaubhaft", sagt Oberstaatsanwalt Axel Bieler. Die Anwältin, die Davids Interessen vertritt, fand bei der Sichtung der Akte heraus, dass A. im Jahr 1994 schon wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war. Dieser Eintrag war aber mittlerweile aus dem Strafregister gelöscht worden. "Ich hatte mir selbstverständlich ein erweitertes Führungszeugnis geben lassen, als ich den Mann einstellte. Es war sauber", sagt Heimleiter K. Auch die Behörden wussten offenbar nichts von A.s Vorleben. "Was nützt das Ganze, wenn solche Einträge nach ein paar Jahren gelöscht werden?", fragt K.

David erlitt einen schweren Zusammenbruch, als er von der Vorstrafe erfuhr, so Alexandra K. Er soll demnächst einen rechtlichen Betreuer erhalten. Doch sein Vertrauen in Amtsvertreter ist zerstört. Auf Nachfragen im formell immer noch zuständigen Ludwigshafener Amt, so erinnert David sich, riet man ihm, er solle doch einfach weiter in dem Heim wohnen bleiben, der Täter sei jetzt ja nicht mehr da. Aus Eimsbüttel, so sagt er, habe er den Rat bekommen, er könne Hartz IV beantragen und den Hauptschulabschluss auf einer Abendschule nachholen. Die Familie hofft, dass sich ein Träger finden lässt, der Jugendliche mit erhöhtem Förderbedarf in das Berufsleben integriert. David leidet weiter - und geht durch die Nacht, Kilometer für Kilometer.