Wer jedem Bettler etwas gäbe, würde arm: Betrachtung über den Umgang mit denen, die Almosen erbitten, und die Schwierigkeit, nicht wegzusehen.

Der Sommer ist doch noch gekommen und der viele Regen der vergangenen Wochen fast schon vergessen: Wir befinden uns so oder so in der warmen Jahreszeit. Und das Empfinden täuscht uns nicht: Die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt in Hamburg treibt immer mehr Menschen in die Obdachlosigkeit. Viele sind als Bettler unterwegs. Überall: in den U-Bahnen und Straßen, vor allem am Hauptbahnhof und in der Innenstadt. In der Spitalerstraße sitzen sie, das personifizierte schlechte Gewissen unserer Wohlstandsgesellschaft, beinah alle zehn Meter vor den Geschäften. Mit Schildern aus Karton, auf denen Bittgesuche stehen.

An einem Sonnabend in der City kann man, sofern man nicht abgehärtet ist, nicht anders, als die große Sache mit der Moral und dem Egoismus durchzudenken. Und man kann sich ein Bild davon machen, wie unsicher und hilflos sich Menschen, egal ob Stadtbewohner oder Hamburgbesucher, Bettlern gegenüber verhalten.

Wir blicken weg, meistens. Wer hinschaut, wenn sich einer mit Demutshaltung oder Leidensmiene in übervolle Fußgängerzonen setzt, der hat entweder eine christliche Agenda oder sieht die Welt mit den unschuldigen Augen eines jungen Menschen.

Eine Szene, die sich so ständig abspielt: Ein Kind bleibt vor dem um ein Almosen bittenden Mann stehen und lächelt ihn an, die Mutter zieht es hektisch weg. Nur Zyniker dürfte so etwas kalt lassen - der buchstäblich Arme, der sich in aller Öffentlichkeit deklassiert, wird doppelt gekränkt. Man gibt dann selbst einen Euro, als Trost? Aus schlechtem Gewissen?

Und was ist schlimmer: das komplette Ignorieren oder das Keine-Almosen-Geben? Es wird ja immer mal wieder über Bettelverbote geredet, und das fällt einem natürlich dann auch ein, wenn man ihrer ansichtig wird: der Bettler und der Schnorrer, der Straßenmusiker und der Obdachlosenzeitungsverkäufer. Es gibt zwei Gruppen von Bettlern, die wir in der Stadt beinah täglich sehen: Da sind die Sitzenden, die demonstrativ demütig sind. Sie entwürdigen sich, und oft machen sie es einem leicht, an ihnen vorüber-, kein bisschen auf sie einzugehen.

Und da sind die, die nicht am Boden sind: die etwas, dieses durchaus gönnerhafte Lob ist manches Mal zu hören, für das Geld tun. Sie erbitten keine milde Gabe oder Spende, sie wollen für ihr Bemühen belohnt werden: für ein Musikstück, das sie dargeboten, oder eine Postkarte, die sie gemalt haben. Wer sich öfter in den touristischen Vierteln Hamburgs aufhält - auf dem Schulterblatt oder am Hafen -, sieht immer dieselben südeuropäischen Gesichter: Musiker mit Akkordeon oder Gitarre, die von Tisch zu Tisch, von Bierbank zu Bierbank gehen, stets ein charmant gedachtes Lächeln anknipsen und nach der Intonierung temperamentvoll gedachter Lieder mit dem Kaffeebecher penetrant eine Belohnung verlangen.

Wie reagiert man angemessen, wenn einem diese Beschallung aufgenötigt wird? Freundlich lächeln und sich nicht von der Ranschmeiße der Musiker irritieren lassen? Leichter gesagt als getan. Und wie reagiert man, wenn junge Frauen mit Säuglingen im Arm, losgeschickt von bestens organisierten Bettlerbanden, einen in der Fußgängerzone stellen? Man setzt ein ziemlich unwirsches Gesicht auf und wähnt sich als humanistisch erzogener Mensch dem tadelnden Blick des Dritten ausgesetzt: Ob der mich jetzt für kalt und egoistisch hält? Was bleibt, ist oft die Scham über die eigene Hartherzigkeit, auch wenn man schnell sein Gewissen erleichtern kann, sobald man sieht: Die anderen geben ja auch nichts.

Vor einigen Jahren hat der Schriftsteller und Georg-Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino einen Text geschrieben mit dem Titel "Über das Betteln", in dem er zu erklären sucht, warum manche Bettler so offensiv eine schnelle Spende einfordern: "Der gewöhnliche Bettler glaubt, dass die anderen an seinem Schicksal heimlich mitgewirkt haben." Genazino stellt bei den oft hageren und ausgemergelten Gestalten, die sich in volle Pendlerzüge drängen, ein Ressentiment gegen die ignoranten Almosen-Verweigerer fest; eine mitunter sogar aggressive Grundhaltung, mit der sie auftreten. Die Bettelnden leiden unter dem gleichen Mangel an Einfühlungsvermögen wie die Angebettelten. Sie fordern, ohne etwas über die Lebenswirklichkeit der aus ihrer Sicht Reichen zu wissen. Dabei haben, wie Genazino schreibt, "die Angebettelten (...) teure Kinder, sie müssen überhöhte Mieten zahlen, die Ratenzahlungen drücken, der nächste Urlaub ist schon mal gestrichen; da bleibt für Bettler nicht viel übrig. Die Erfolglosigkeit macht viele Bettler angriffslustig; wenn sie nichts oder zu wenig kriegen, werden sie pampig."

Das erlebt man oft genau so; selbiges gilt freilich im Hinblick auf besonders tugendhafte und arrogante Zeitgenossen, die ihrerseits pöbeln und Bettler am liebsten sofort zum Arbeiten verdonnern wollen. Genazino glaubt, dass der "Affekt gegen Bettler" auf die NS-Zeit zurückgeht, als Bettler zum Arbeitsdienst zwangsverpflichtet wurden und in Konzentrationslager kamen: Sie galten als arbeitsscheu und asozial.

Aber eigentlich ist es so, dass wir betreten wegschauen, manchmal auch genervt, ohne uns je in ein Gespräch ziehen zu lassen. Weil wir, die wir für uns doch Werte wie Barmherzigkeit und Mitleid in Anspruch nehmen, genau wissen, dass wir nicht jedem etwas geben können. Was wie eine gewissensberuhigende Ausrede klingt, ist nichts weniger als wahr: Wer ständig ein paar Münzen gäbe, der würde arm dabei.

Die nassforsche Art manch jugendlicher Schnorrer - der Punks - darf man auch mal mit einem spöttisch lachenden Kopfschütteln quittieren. Darüber hinaus ist hartes Reden gegen Bettler aber oft selbstgerecht. Man darf immer noch davon ausgehen, dass sie nicht gerne auf der Straße leben. In Hamburg leben nach jüngsten Erkenntnissen mehr als 1000 Obdachlose. Nicht jeder bettelt. Und nicht jeder Bettler ist obdachlos. So oder so kostet das Betteln den Bittsteller Überwindung - und dennoch hasten wir oft weiter, ohne ihn überhaupt anzusehen. Da spielt auch Misstrauen eine Rolle. Wer kann schon erkennen, wer wirklich bedürftig ist? Und wer lässt sich gerne Lügengeschichten erzählen ("Habe meine Geldbörse verloren und muss dringend nach Lübeck zu meiner alten Mutter")?

Auch der Knigge sagt nichts über das richtige Verhalten gegenüber Bettlern. Für Arthur Schopenhauer hatte das Mitleid den höchsten Rang innerhalb des ethischen Verhaltens inne: Die moralische Kraft des Mitleids war für den deutschen Philosophen ein Gegengewicht zum Egoismus. Und Lessing sagte schlicht: "Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch."

Wenn man also davon ausgeht, dass die Bettler nicht aus dem Stadtbild verschwinden (wie auch?), muss man sich fragen, wie sehr man zu der Hilfsbedürftigkeit auf Distanz gehen will: Wer für sich die Entscheidung trifft, grundsätzlich nichts zu geben, handelt in ethischer Hinsicht nicht richtig.

Wer es allerdings nach einem harten Arbeitstag in der U-Bahn macht wie alle anderen und den Bettler mit keiner Gabe bedenkt, der handelt nicht schlecht: Es kommt eben auch immer auf die Atmosphäre an, in der einer geben soll und der andere nehmen will. In diesem Sinne fasst Wilhelm Genazino das Betteln als ernsthaften Beruf auf. Er plädiert für Bettelschulen, in denen die Bettelnden lernen, wie sie eine Situation herstellen können, in denen der Spender gerne gibt. Dies klingt nur am Anfang übertrieben, ist aber durchaus ein Vorschlag für optimiertes, jedoch eben nicht bandenmäßiges Betteln. Vielleicht sind es in unserer Konkurrenzgesellschaft, in der die Ellenbogen ausgefahren werden und der Nächste nur allzu oft vergessen wird, tatsächlich die Notleidenden, die selbst dafür sorgen müssen, dass keine abgeschmackten und würdelosen Szenen entstehen, in denen Bettler und Angebettelte ihre Gesichter verlieren.

Wer hat, übrigens, beim Anblick eines Flaschensammlers (sie sehen oft aus wie nur irgendwer aus dem Büro oder der Nachbarschaft - wie "normale" Menschen) oder eines Bittstellers in der Fußgängerzone nicht selbst schon mal gedacht: Das könnte auch ich sein, auf der Schattenseite des Lebens, vom Pech verfolgt oder von Gott und der Welt im Stich gelassen?