Jeder fünfte Referendar in Hamburg hat ausländische Wurzeln. Allmählich spiegeln Schulen die Realität in Deutschland. Doch Konflikte bleiben.

Hamburg. Einmal, erzählt Zeynep Baris, habe sie ein Schüler gefragt: "Frau Baris, dürfen Sie überhaupt Deutsch unterrichten? Sie sind doch Türkin." Baris hat sich dann mit dem Schüler in eine Ecke des Klassenzimmers gesetzt und ihm erklärt, dass sie in Deutschland aufgewachsen ist, hier studiert hat und dann Lehrerin wurde. Und Baris hat dem Schüler gesagt: "Wenn du dich anstrengst, dann kannst du das auch schaffen."

Baris steht jetzt vor der Tafel und hebt den Arm. Sie tippt mit ihrem Zeigefinger auf ihren Mund und steht still. Das Gewusel an den Tischen wird leiser, die Kinder holen ihre Hefte aus dem Rucksack und einen Stift aus der Federtasche. Sie heben ihren Arm wie die Lehrerin, einer nach dem anderen. Es wird still. Kurz nach halb elf Uhr an der Stadtteilschule in Wilhelmsburg, für die vierte Klasse beginnt der Sachkundeunterricht. Thema: Meine Lieblingstiere.

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Es gibt in deutschen Städten, Wohnvierteln, auf den Straßen und in den Klassenzimmern eine nicht zu übersehende Realität. Sie lässt sich auch in den Statistiken ablesen: Mehr als 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben in Deutschland. In Hamburg kommt inzwischen fast jedes zweite Schulkind aus ausländischen Familien oder hat Eltern, die nach Deutschland eingewandert sind. Doch es gibt noch eine andere Realität: die im Lehrerzimmer. Obwohl die Zahl der Schüler mit Migrationshintergrund stetig wuchs, sind die Lehrer mehrheitlich weiblich, mehrheitlich über 50, mehrheitlich bürgerlich und aus deutschen Familien. Es gibt bundesweit und in den Ländern keine vergleichbaren Zahlen über die Anzahl der Lehrkräfte mit Migrationshintergrund. Das hat auch rechtliche Gründe, denn die Herkunft darf bei der Einstellung nicht erfasst werden. Sie soll nicht relevant sein. Zumindest nicht auf dem Papier. Doch es gibt immerhin Schätzungen der Berufsverbände - und danach stammen bundesweit gerade einmal fünf Prozent der Lehrer aus Migrantenfamilien.

Erst allmählich kommt die Realität der deutschen Gesellschaft in den Schulen an. Immer mehr junge Menschen mit Migrationshintergrund entscheiden sich für den Lehrerberuf. Auch in Hamburg. Im Mai 2012 waren 21,2 Prozent der Referendariate mit jungen Leuten aus Migrantenfamilien besetzt. Seit Ende 2010 ist ihr Anteil konstant über 20 Prozent. Das ist eine gute Quote. Viele von ihnen haben russische Wurzeln, viele auch türkische oder polnische. Aber auch Kasachstan, Syrien oder Peru sind Herkunftsländer der angehenden Lehrer. Diese Zahlen gehen aus einer Kleinen Anfrage des Bürgerschaftsabgeordneten Kazim Abaci hervor. "Mich freut vor allem, dass Referendare mit Migrationshintergrund an allen Schultypen vertreten sind, auch an Gymnasien", sagt der SPD-Politiker dem Hamburger Abendblatt. Jeder Vierte der neuen Referendare beginnt seine Arbeit an einem Gymnasium. Besonders in den vergangenen zwei Jahren seien die Entwicklungen sehr positiv gewesen, hebt Abaci hervor. Noch 2006 hatten gerade einmal sechs Prozent der Referendare in Hamburg einen Migrationshintergrund.

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Damals hat Zeynep Baris noch studiert. Auf Lehramt, an der Universität in Vechta. In der Grundschule in Cranz war sie in einer Klasse mit Kindern, die alle auch türkische Eltern hatten. Kinder der Gastarbeiter, die Deutschland seit den 60er-Jahren anwarb, vor allem aus der Türkei, Italien und Griechenland. Sie ackerten in Fabriken, an Fließbändern, in Hallen. Studiert hatte kaum einer von ihnen. Baris' Vater kam 1973 nach Deutschland, die Mutter zog Ende der 70er-Jahre nach.

Als Baris selbst noch zur Schule ging, haben Lehrer oft gefragt: Zeynep, bist du dir sicher, dass du das schaffst? "Sie haben mir einfach nicht zugetraut, dass ich gut genug bin für das Gymnasium", sagt Baris.

Schaffst du das? Kannst du das? Darfst du das? Es sind die Fragen einer Generation junger Menschen, die ihren Weg suchen in eine deutsche Normalität. Aber immer auch mit der Geschichte ihrer Eltern im Gepäck.

Baris sitzt im Lehrerzimmer. Neben ihr auf dem roten Sofa erzählt Sibel Baran von ihrer Kindheit: "Meine Großmutter war Analphabetin, meine Eltern hatten nur einen Hauptschulabschluss. Sie haben mir immer gesagt: Schule ist wichtig für dich, sonst wirst du irgendwann Haselnüsse pflücken in der Türkei." Barans Eltern meinten das nicht ernst mit den Haselnüssen. Aber hinter der Drohung steckt die Sehnsucht nach einem besseren Leben, die Sehnsucht nach Wohlstand, die auch sie damals hatten, als sie in den 1970ern nach Deutschland kamen. Im Jahr 2012 ist diese Sehnsucht nur mit guter Bildung zu erreichen. Das wussten auch Barans Eltern. Heute unterrichtet ihre Tochter Mathematik, Gesellschaft und Türkisch an der Stadtteilschule.

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In der vierten Klasse, in der Zeynep Baris lehrt, sind viele Schüler Kinder von Einwanderern. Sie kamen aus Russland, Pakistan oder der Türkei. Oftmals lernen sie zu Hause nicht richtig Deutsch. Doch nicht allein die hohe Zahl an ausländischen Kindern in den Schulen ist ein Grund, weshalb die Politik seit einigen Jahren mit viel Aufwand und Geld um neue Lehrkräfte mit Migrationshintergrund wirbt. In den nächsten Jahren gehen 350 000 Pädagogen in den Ruhestand. Wenn sich die Demografie nur halbwegs in den Klassenzimmern widerspiegeln soll, müssten zeitgleich 175 000 Lehrerinnen und Lehrer wie Baris und Baran eingestellt werden. Das schreibt der Bildungsexperte und frühere Hamburger Wissenschaftssenator Jörg Dräger in seinem Buch "Dichter, Denker, Schulversager".

Auch im Nationalen Aktionsplan 2011 der Bundesregierung ist als wichtiges Ziel von Bund und Ländern festgelegt, die Anzahl von Lehrkräften mit Migrationshintergrund zu erhöhen. Neben Werbekampagnen ist aus Sicht des Ministeriums auch die Anerkennung ausländischer Abschlüsse oder der pädagogischen Vorbildung von Migranten ein wichtiger Schritt. Einheitliche Regeln zur Anerkennung werden derzeit in Gesetzen festgelegt. Sie sollen den Weg in die deutschen Lehrerzimmer leichter machen.

Doch für SPD-Politiker Abaci ist eine Normalität damit allein nicht zu erreichen. Noch immer seien Hamburgs Stadtteile zu sehr geteilt in Migrantenviertel einerseits und deutsche Viertel andererseits. Abaci fordert, dass Lehrkräfte mit Migrationshintergrund künftig vermehrt dort eingesetzt werden, wo die Schüler aus deutschen Familien kommen.

An der Stadtteilschule in Wilhelmsburg seien mittlerweile knapp 15 Pädagogen mit ausländischen Wurzeln angestellt - bei rund 120 Lehrkräften insgesamt, sagt Baris. Viele türkische Eltern aus Wilhelmsburg hätten sich gefreut, als sie Baris kennenlernten. "Sie haben schneller Vertrauen in mich als in Kollegen, die kein Türkisch sprechen oder die Kultur kennen", sagt Baris. Sie und Baran wollen Brückenbauer sein - zwischen Schülern, Eltern und dem Unterricht, vielleicht zwischen Generationen.

Und sie wollen noch etwas: Nicht mehr die Ausnahme sein an deutschen Schulen. Sondern die Normalität.