Ein norddeutscher Unternehmer verkauft Würstchen und Frikadellen ohne Fleisch - das Geschäft floriert. Jetzt will er die USA erobern.

Hamburg. Remis Böttcher hat die Currywurst frisch aufgeschnitten. Appetitlich dampfend liegt sie auf dem Teller, die braune Hülle sieht aus wie der Klassiker aus Schwein, nur das Innere geht optisch etwas mehr ins Gelb-Rötliche. Der erste vorsichtige Biss verblüfft: Es schmeckt gut, vielleicht etwas mehr nach Paprika als üblich, auch ein wenig mehr Knackigkeit wäre schön, aber ansonsten kann die Bratwurst mit dem Original mithalten. Dabei hat das Innenleben der Leckerei so wenig mit einer üblichen Wurst gemeinsam wie ein Tofuwürfel mit einer Haxe. Es ist ein Algenwürstchen.

"100 Prozent vegetarisch, dafür muss kein Tier sterben", sagt Remis Böttcher, und der 53 Jahre alte Naturliebhaber steht auch ganz persönlich für seine Erfindung: Schon vor Jahren entschied sich der ehemalige Holzfäller, möglichst alle seine Lebensmittel selber herzustellen, aus "gesunden Zutaten", wie er sagt.

Was vor Jahren als ein Experiment in der eigenen Küche begann, hat sich für den Tüftler aus Munster in der Lüneburger Heide inzwischen zu einem guten Geschäft entwickelt. Heute liegen seine patentgeschützten Produkte, neben der Currywurst auch Algenfrikadellen, Algenwiener, Algenaufschnitt oder Algenkekse, bei Feinkostgeschäften oder in Fleischereien rund um Bremen in der Theke. Neuerdings gehören auch sechs Edeka-Läden in Berlin zu den Abnehmern der Produkte, die rund 3 Euro pro 100 Gramm kosten. Auch das Internetgeschäft mit Algenfans in der ganzen Republik läuft gut, sagt der Unternehmer. 600 Kilo produziert er inzwischen im Monat, oder besser: lässt er von seinem Hersteller, Miterfinder und Schlachtermeister Heiko Meyer aus Bispingen, mischen, in Därme füllen und teilweise über Buchenholz räuchern.

Die Fleischwirtschaft kommentiert die Algenoffensive als "netten Gag", wie es Thomas Vogelsang, Geschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Fleischwarenindustrie, formuliert. Immerhin setzt Böttcher aber auf einen Trend, den auch die traditionellen Wursthersteller verfolgen. Denn auch sie verabschieden sich von der Wurst mit 100 Prozent Fleisch. "Die Lebensmittelvorschriften zwingen uns heute nicht mehr, hauptsächlich Fleisch in die Wurst zu füllen", sagt Vogelsang. Als Antwort auf das steigende Gesundheitsbewusstsein kämen nun auch Geflügelmortadella mit Olivenöl statt Schweinespeck oder eine Brühwurst mit Körnern in die Fleischtheke. Auch Böttcher profitiert von der Sensibilität der Kunden und natürlich von den rund sechs Millionen Vegetariern in Deutschland. Er kann bereits von seinen Algenprodukten leben und - wichtig für den Lebenskünstler - seine Reisen zu seinem Traumziel Kanada finanzieren.

Auch die Entstehungsgeschichte der Tangprodukte führt in das Land zwischen Atlantik und Pazifik. Bei einem seiner monatelangen Trips durch die kanadische Wildnis war Böttcher die Idee gekommen, Algen für Lebensmittel zu nutzen. "Viele Menschen sind schlecht mit Vitalstoffen versorgt, deshalb wollte ich ein neues, gesundes Nahrungsmittel produzieren", sagt der Abenteurer, der sich immer wieder von den Ureinwohnern Kanadas inspirieren lässt und derzeit in einem Wohnwagen lebt.

Anfangs habe er bei seinem Plan für die Weltneuheit allerdings etliche Tiefschläge überwinden müssen. Es galt, einen kreativen Produzenten zu suchen, den er mit Heiko Meyer inzwischen gefunden hat. Er experimentierte mit Süßwasseralgen, die aber bei der Konsistenz zu wünschen übrig ließen, "da fehlte mir der Knackeffekt". Und er musste, vielleicht das Schwierigste, die Lebensmittelbehörden in Deutschland überzeugen. Den Prüfern war wegen der Algen zu viel Jod in den Würstchen, deshalb enthalten sie jetzt neben dem Meeresgemüse auch Reis und Paprika. Dann ging es darum, einen verlässlichen Lieferanten für die Wasserpflanze zu finden, die sonst hauptsächlich in der asiatischen Küche Verwendung findet und mit einem jährlichen Verbrauch von neun Millionen Tonnen dort schon nicht mehr zu den Nischenprodukten zählt.

Doch Böttcher misstraute den asiatischen Herstellern, die immer wieder mit schädlichen Zusätzen in die Schlagzeilen geraten, und stieß schließlich auf Deutschlands nördlichsten Punkt, List auf Sylt. Dort betreibt Professor Klaus Lüning seine Sylter Algenfarm, und Böttcher, der den Meeresforscher heute nur noch "Algengott" nennt, hatte seinen idealen Lieferanten sozusagen vor der Haustür gefunden. Er nimmt dem Aquakultur-Betreiber inzwischen jährlich bis zu 2000 Kilo der Braunalgenart Laminaria ab.

Einen weiteren Algenfreund hat Böttcher zudem in seinem Lieblingsland gefunden. Ein deutscher Gastronom vertreibt seine Algenwürstchen in Kanada in Lizenz und hat dort mittlerweile mehr Kunden gewinnen können als Böttcher in Deutschland. Das überrascht kaum, denn in Kanada hat es zuletzt noch größere Fleischskandale als hierzulande gegeben. Für den findigen Niedersachsen Grund genug für weitere Wachstumspläne: "Jetzt nehmen wir die USA ins Visier."