Angeklagter soll Drogendealer bei Autofahrt erschossen haben - und wird freigesprochen. Der Grund: Die Beweise reichen nicht aus.

Hamburg. Drei Männer sitzen in einem Auto, einer von ihnen erschießt den Fahrer - und trotzdem gelingt es der Justiz nicht, den Todesschützen zu überführen. Im Gerichtssaal kam es gestern zu Tumulten: Entsetzte, verzweifelte, wütende Zwischenrufe mischten sich in die Urteilsbegründung, die der Vorsitzende Richter Wolfgang Backen mit sonorer Stimme verlas. Das Bedürfnis der Hinterbliebenen nach Sühne stand auf der einen Seite, die an hieb- und stichfeste Beweise geknüpfte Entscheidung der Justiz auf der anderen. Ein sehr spezieller Fall auch, weil hier ein Mord im Raum stand, von dem das Gericht den Angeklagten gestern freisprach - und ihn lediglich wegen Drogenhandels zu 18 Monaten Haft verurteilte.

12.10 Uhr im Saal 398 des Landgerichts am Sievekingplatz. "Das ist das Urteil", ruft ein Mann fassungslos. "Das kann nicht sein", sagt eine Frau, sie wiederholt es immer wieder, weint bitterlich und verlässt den Saal. "Das ist eine Einladung zum Mord", schreit ein anderer. Und vorne sitzt Ernes I., 30, als ginge ihn all das nichts an. Der im Drogenmilieu unter dem Namen "Antonio" bekannte Angeklagte mit der schwarzen Lederjacke dreht sich nicht einmal um.

Fest steht: Am 28. Februar wollten Ali Ch., 28, und Ernes I. einen Drogendeal im Mercedes des späteren Opfers abwickeln. Es ging um 10 000 Euro für zwei Kilogramm Marihuana. Ernes I. sollte zahlen, Ali Ch. sollte liefern, ein Geschäft unter Dealern. Auch Kenan K., 26, ein Freund des Mordopfers und vorbestrafter Kleinkrimineller, saß in dem Wagen. Plötzlich fiel von hinten ein Schuss, das Projektil durchschlug die Brust von Ali Ch., der darauf die Kontrolle über den Wagen verlor. Der Mercedes wurde immer schneller, streifte einen Radfahrer, bevor er am Dobbelersweg (Hamm) gegen einen Baum krachte. Ali Ch. starb noch am Unfallort, Kenan K. überlebte schwer verletzt. Für die Staatsanwaltschaft stand fest, dass es Ernes I. gewesen sein muss, der Ali Ch. erschoss. Mutmaßliches Motiv: Habgier.

Die Anklage stützte sich auf die Aussage von Kenan K. Auf sie allein kam es vor Gericht an, zumal die Spurenauswertung kaum Beweiskraft hatte und der Angeklagte zum Vorwurf schwieg. Doch Kenan K. trug zur Aufklärung nichts bei, er stiftete nur Verwirrung. Verweigerte er anfangs eine Aussage, um sich nicht selbst der Gefahr der Strafverfolgung auszusetzen, ließ er sich dann doch vernehmen. Schon sein sprunghaftes Verhalten schürte das Misstrauen des Landgerichts. Am Ende glaubte ihm die Kammer kein Wort mehr. Wolfgang Backen ist ein erfahrener und besonnener Richter. Keiner, der im Verdacht steht, Tätern ungerechtfertigt Milde widerfahren zu lassen. Im spektakulären "Ehrenmord"-Fall hatte er 2009 Morsals Bruder zu lebenslanger Haft verurteilt.

Auch dieses Urteil haben er und die Kammer sich nicht leicht gemacht. Der Zeuge, so Backen, habe sich fortlaufend in Widersprüche verwickelt. Erzählte mal das eine, mal das andere, etwa dass er im Moment der Schussabgabe mit seiner Freundin telefonierte, was nach Auswertung der Telefonprotokolle unmöglich stimmen konnte. Widerlegen konnte das Gericht zudem seine Behauptung, er habe auf dem Beifahrersitz gesessen. Denn die Gutachter fanden Faserspuren von der Kleidung des Zeugen auf dem Rücksitz, hinten rechts. Auch von dort, so die Rechtsmediziner, hätte die Pistole, Marke Browning, Kaliber 7,65 mm, abgefeuert worden sein können.

Außerdem fanden sie Schmauchspuren an der Kleidung von Kenan K. Denkbar, dass es der Zeuge selbst war, der den tödlichen Schuss abgab - möglicherweise versehentlich, im Handgemenge mit dem Angeklagten, so die Kammer. Denkbar - aber eben nicht bewiesen. Zwar spreche aus ihrer Sicht einiges dafür, dass der Angeklagte Ali Ch. erschossen habe. Am Ende blieben aber zu viele Zweifel. "Von der Qualität der Beweismittel hängt es ab, ob wir der Wahrheit näher kommen", sagt Backen. "Hier können wir es drehen und wenden, wie wir wollen - es reicht nicht für eine Verurteilung wegen Mordes."

Worte, die ungehört im Gerichtssaal verhallen. Erst jetzt scheinen die Angehörigen begriffen zu haben, dass nichts mehr kommt: kein "lebenslänglich" und damit keine Sühne für den Tod des Freundes, Bruders, Sohnes. Sie stoßen Todesdrohungen gegen den Angeklagten und Flüche gegen das Gericht aus, Justizbeamte drängen die Hinterbliebenen erst hinaus und stemmen sich dann gegen die Saaltür, um zu verhindern, dass der wütende Mob wieder hineindrängt und womöglich kurzen Prozess mit Ernes I. macht. Kurz darauf erleidet der Vater des Opfers, Nebenkläger in dem Verfahren, einen Schwächeanfall, muss mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht werden.

Die Staatsanwaltschaft will nun eine Revision prüfen. Sie hatte dem Zeugen geglaubt und eine lebenslange Freiheitsstrafe für Ernes I. gefordert. Wird das Urteil aber rechtskräftig, verlässt der 30-Jährige das Gefängnis in 18 Monaten als freier Mann.