Der kleine „Schmiddel“ knüpft zarte Bande zu Hannelore, lädt sie zu seinem elften Geburtstag ein. Und entdeckt ein Familiengeheimnis.

Hamburg. Das dunkle Geheimnis, das Helmut Schmidts Vater Gustav schlaflose Nächte bereitet, wird erst 1933 enthüllt, nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Noch also kann der kleine Helmut lustvoll und unbeschwert durch das Leben toben. Das Lernen fällt dem Buttje mit den kurzen Hosen und dem schon früh ausgeprägten Faible für Mützen in den Schoß.

"Insgesamt war ich recht faul", bekennt er später.

Helmut Schmidt genießt die relative Freiheit des Lernens, als er Ostern 1929 als Zehnjähriger aus der Grundschule Wallstraße in die Sexta der Lichtwarkschule kommt; heute wäre das die fünfte Klasse. Anfangs fällt dem Pennäler gar nicht so recht auf, dass es eine Mitschülerin namens Hannelore Glaser gibt, die von allen nur Loki genannt wird und über Größe verfügt - in jeder Beziehung.

Sie überragt die Klassenkameraden um einen Kopf, aber sie hat auch Mumm und einen starken Gerechtigkeitssinn. Wenn übermütige Jungs körperlich eher schwächere Mädchen drangsalieren, pflegt Loki leidenschaftlich dazwischenzugehen. Nach drei oder vier ähnlichen Klarstellungen mittels schlagkräftiger Argumente sind die Fronten in der Sexta geklärt. In Anspielung auf den Hamburger Boxmeister erhält sie den Spitznamen "Schmeling".

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+++ Helmut und Hannelore Schmidt - Stationen ihres Lebens +++

Helmut wird "Schmiddel" genannt. Anfangs einer der Kleinsten in der Klasse, holt er im Laufe der Zeit auf. Es gelten drei große "K": Kodderschnauze, Klassenprimus, Kumpel. Wenn irgendwo Blödsinn verzapft wird, steckt nicht selten "Schmiddel" dahinter. "Schnackfäss" nennen sie ihn ebenfalls, ob seiner ungewöhnlichen Eloquenz und seines Wortwitzes.

Zu seinem elften Geburtstag lädt er Loki ein. Helmut ist am 23. Dezember 1918 geboren, Hannelore am 3. März 1919. Und sein Geburtstag wird erst so richtig im Sommer parallel mit Bruder Wolfgangs Geburtstag gefeiert, also rund ein halbes Jahr später.

Es ist ein herrlicher Sommertag bei den Schmidts in der Richardstraße. Loki weiß die Ehre durchaus zu schätzen, zwischen den Jungs zu sitzen. Helmuts Mutter Ludovica Schmidt organisiert Topfschlagen, Blindekuh und die "Reise nach Jerusalem". Es gibt Kakao und Kuchen; denn die Schmidts leiden keinen Mangel. Anschließend stellt die Hausfrau eine Schüssel mit Kirschen aus dem Alten Land auf den Tisch.

Spontan entwickelt sich ein Wettessen. Am Ende siegt Loki, sie hat die meisten Kerne auf dem Teller. Bei aller Betriebsamkeit und Aufregung lässt Loki abends ihre Mütze liegen. Frau Schmidt bittet ihren Sohn, Loki das gute Stück nach Hause zu bringen. Helmut gehorcht, stapft los, geht über die Wandsbeker Chaussee, passiert die Terrinenstraße, überkreuzt an der Landwehr die S-Bahn-Gleise.

Am Ziel überreicht er der verdutzten Loki die Baskenmütze. "Schmiddel" reagiert betroffen auf die Lebensverhältnisse der Familie Glaser. Sie wohnt in einer winzigen Zweizimmerwohnung in einem finsteren Hinterhof ohne Strom und Toilette. Beleuchtet wird, wenn überhaupt, mit Gas. Was dazu führt, dass die von Lokis Vater gelegentlich vom Großmarkt mitgebrachten Blumen schon nach zwei Tagen die Köpfe hängen lassen. Weil Gas ausströmt. Zu allem Überfluss ist es in den beiden kleinen Zimmern auch tagsüber dunkel, weil kaum Licht durch die Fenster fällt. Die nächste Hausmauer ist maximal vier Meter entfernt.

Der junge Helmut, in bürgerlichem Umfeld aufgewachsen, ist schockiert. "Ich hätte nicht gedacht, dass Menschen in Hamburg so einfach leben", gibt er später zu Protokoll. Und zum ersten Mal bemerkt er an sich einen Wesenszug, den er schon damals mit Loki gemein hat: Gerechtigkeitssinn.

"In meinem Inneren regte sich Widerspruch." Ganz zart keimt der Wunsch, dass man daran etwas ändern müsse. Daraus wurde später ein Wille. Dabei hat Helmut eigentlich gar nicht vor, in die Politik zu gehen. Malerei, Architektur und Geschichte sind seine Steckenpferde. Mit fortschreitendem Alter wächst in ihm die Vorstellung, einmal Städtebauer und Planer zu werden.

Meist an der Seite ihrer Freundin Gesine, Spitzname Gesa, marschiert Loki auf dem Schulweg durch den Stadtpark. Am See vorbei, an der Grüninsel, genießt den Blick auf den Wasserturm, passiert die beiden Muschelkalk-Skulpturen des Künstlers Georg Kolbe.

Trotz der Begeisterung für alles Grüne gibt es jede Menge Sorgen in ihrem jugendlichen Leben. Dass die Heimkehr von der Schule nach Hause manchmal länger als die Stunde des Hinwegs dauert, haben immer öfter Helmut Schmidt und sein Bruder Wolfgang zu verantworten. "Lass uns schneller laufen - da hinten kommen die Schmidt-Jungs", pflegt Gesa zu rufen.

Beide bleiben letztlich allzu gern stehen. Aus gutem Grund: Das Quartett findet zusehends Interesse aneinander. Irgendwann geben sich Loki und Helmut auf einer Bank im Stadtpark den ersten Kuss. Ungefähr zwei Jahre vor dem Abi muss das gewesen sein. Die "badenden" Skulpturen sind stumme Zeugen erster Techtelmechtel, denen ein paar Knutscheinheiten folgen.

Dann ist aber auch Schluss mit lustig. Loki und Helmut bleiben gute Schulkameraden, verstehen sich auch außerhalb des Unterrichts prächtig. Das war's. Erst einmal. Helmut liest privat mit Inbrunst, rudert, fährt Rad, segelt auf der Außenalster.

1933 kommt Hitler an die Macht. Die Kinder denken sich kaum etwas dabei. Sie registrieren lediglich, dass die Eltern immer öfter tuscheln und die Kinder oder mittlerweile Jugendlichen des Raumes verweisen, wenn es politisch zur Sache geht.

Das Klima in der Hansestadt wird rauer. Braune Banden marodieren durch Hamburg; es wird erste Hatz auf Juden gemacht. Der Altonaer Blutsommer vom 17. Juli 1932 ist eine fürchterliche Vorwarnung. Bei einem Werbemarsch der SA durch das damals noch preußische Altona werden 18 Menschen ermordet. Die Nazis veranstalten Aufmärsche. Wer nicht will, muss mit. Irgendwie.

Und dies ist der Augenblick, in dem Helmut Schmidt von jenem Geheimnis erfährt, das seinen Eltern so dermaßen große Sorgen macht, dass Vater Gustav bis Kriegsende das Schlimmste befürchten muss. Ein Geheimnis, das im Dritten Reich Kopf und Kragen kosten kann - im wahrsten Sinn des Wortes: Die Familie Helmut Schmidts ist teilweise jüdischer Abstammung.

Der nunmehr 14-jährige Helmut erfährt davon erst nach heftigem Insistieren. Er möchte so gern Mitglied der Hitlerjugend werden, mit all der damit verbundenen Spannung: Ausflüge, Lagerfeuer, Kameradschaft.

Vater Gustav wehrt dieses Ansinnen vehement ab, wird zornig, gibt aber keinen Grund an. Helmut indes lässt nicht locker, macht Krach, will partout seinen Freunden folgen und der HJ beitreten. Fast kommt es zum Eklat, doch eines Abends nimmt Mutter Ludovica ihren älteren Sohn beiseite und lüftet das Geheimnis.

Der Großvater, Hafenarbeiter mit einer Kate ohne Strom und Wasser, der Sonntag für Sonntag besucht wird, ist gar nicht sein richtiger Opa. Vielmehr, so erfährt der verblüffte Helmut, wurde sein Vater Gustav unehelich geboren, als Kind eines jüdischen Bankiers namens Ludwig Gumpel. Dessen Sohn Gustav kam in die Obhut des Hafenarbeiters Gustav Schmidt und dessen Ehefrau Katharina.

Es ist bekannt, dass Helmut Schmidts Vater aus einer Liaison des wohlhabenden Gumpel mit einer Kellnerin aus dem nördlichen Hamburger Umland stammt, die in der Hansestadt arbeitete. Helmut bekommt keinen der beiden je zu sehen. Nun ist klar, warum sein Vater solche Existenzängste hat. Und mit zunehmender Macht und Brutalität der Nationalsozialisten wird diese Furcht immer größer. Ihm drohten als Halbjude nicht nur ein Berufsverbot, sondern weit Schlimmeres.

Ein nicht arischer Schuldirektor wie Gustav Schmidt wird in damaliger Zeit nicht geduldet. Somit ist dem jungen Helmut klar, warum seine Eltern seinen Eintritt in die Hitlerjugend unbedingt vermeiden wollen. Und nachdem der Sohn eingeweiht ist, schreitet er gemeinsam mit seinem Vater zur Tat.

Gustav Schmidt, dem nachweislich nicht ehelichen Kind Gumpels, fällt es leicht, den Behörden gegenüber von einem unbekannten Vater zu sprechen. Dem von Natur aus staatstreuen und ehrbaren Pädagogen glückt es mit einem Trick sogar, diese Behauptung auch auf einer amtlichen Bescheinigung des Hamburger Staatsarchivs festzuhalten. Und sein Sohn Helmut schafft es irgendwie, einen "Nazistempel" daraufsetzen zu lassen. Mancher würde dieses Vorgehen als Urkundenfälschung einstufen.

Helmut Schmidt indes legt Wert auf die Feststellung, es habe sich "nur" um eine Amtsbescheinigung gehandelt. Wie auch immer: Der Ariernachweis ist fingiert. Die furchtbare Angst des Vaters hat sich mit dieser Fälschungsaktion nicht aufgelöst.

Im Gegenteil. Gustav Schmidts Sorge, als Halbjude und Urkundenfälscher aufzufliegen, nimmt von Tag zu Tag zu. Jedes Mal, wenn auf den Straßen SS-Truppen patrouillieren oder im Treppenhaus schwere Stiefel zu hören sind, gerät er innerlich in Panik.

"Am Ende des Krieges", so gibt Helmut Schmidt später preis, "war mein Vater ein gebrochener Mann."

Lesen Sie morgen: Teil 3 Liebe, Front und Leid: Helmut Schmidt will Stadtplaner werden, doch er muss in den Krieg. Hochzeitsglocken läuten. Hamburg brennt. Und das junge Paar verliert sein erstes Kind.