In einem Altbau in Hoheluft-Ost wohnen Menschen aus der ganzen Welt. Das klappt super - wenn gerade kein Fußball-Länderspiel läuft.

Hamburg. Das Grauen nachbarschaftlicher Völkerverständigung sind Fußballgroßereignisse. Zumindest am Lehmweg 6, wo sieben Nationen unter dem Dach eines hübschen Gründerzeit-Altbaus wohnen, verändern Welt- und Europameisterschaften alles. Wo sonst respektvolles Miteinander herrscht, ein Nachbar dem anderen gern Pakete, Kinder oder Hausarbeiten abnimmt, regieren in den Wochen einer WM oder EM plötzlich herzlicher Spott und munteres Nationenmobbing.

"Beim Fußball werden wir hier alle ganz schlimm patriotisch", sagt Yvonne van Meerveld, Niederländerin und damit tief verstrickt in deutsch-holländische Ballsportkonflikte. Schlimmer dran ist eigentlich nur der Haus-Brite, Sänger Neil Landon, der als Engländer noch üblere Erfahrungen mit deutschen Nationalmannschaften gesammelt hat. "Sie machen alles kaputt", sagt er, weshalb er die Spiele seiner Three Lions nur allein schaut. Von wegen: Fußball verbindet.

Grundsätzlich mögen und schätzen sich die zehn Parteien im Haus natürlich auch während WM und EM. Sie pflegen so etwas wie eine Musternachbarschaft, schmückten ihr Haus 2006 mit Fahnen und trafen sich zum kollektiven Fußballgucken. Aber gerade wenn es um Fußball geht, spielen kulturelle Zugehörigkeiten plötzlich doch eine Rolle. "Denn den Rest der Zeit fällt es mir nicht auf, dass wir hier sieben Nationen sind. Im Gegenteil: Es ist mir egal", sagt der zweite Niederländer des Hauses, Peter de Vries.

236 000 Ausländer leben in Hamburg. Am Lehmweg teilen sich Italiener, Griechen, Schweden, Österreicher, Briten und Niederländer die Wohnungen mit einer Handvoll Deutscher. Fünf Etagen, zehn Wohnungen, sieben Nationen - es ist eines der multikulturellsten Häuser der Stadt, wenngleich sich mitteleuropäische Nachbarschaftsbräuche nicht sonderlich voneinander unterscheiden. "Das ist vielleicht der Schlüssel für unsere gute Nachbarschaft", sagt Marion Ritter, die im Souterrain ein Antiquitäten-Geschäft führt. "Wir pflegen dieselben Werte."

Überhaupt Marion Ritter: "Sie hält den Laden zusammen", sagt Peter de Vries und nennt sie fast zärtlich "den Haussheriff." In ihrem Laden werden die Pakete abgegeben, hier werden der neueste Haustratsch aufgekocht und das Multikulti-Idyll gepflegt. "Ich bin eine 68erin und träume den Traum vom Miteinander. Vielleicht hat das aufs Haus abgefärbt", sagt die 70-Jährige, seit 33 Jahren eine Konstante im Haus.

Sie hat mit einem Strauß Blumen und simplen Kennenlernfragen etwa den Schweden des Hauses, Ulf Ahnberg, gleich beim Einzug für sich gewonnen. "Es war sofort ein gutes Gefühl da", sagt der ehemalige Banker, der mit seiner Partnerin Rosemarie Egge seit zwölf Jahren am Lehmweg wohnt. "Eine wirklich herzliche Begrüßung." Alle seien interessiert am anderen, pflegen ein gesundes Toleranzverständnis und halten auch mal respektvollen Abstand, wenn's sein muss. "Ich denke, das macht es aus", sagt der 74 Jahre alte Schwede. Im Flur wird gegrüßt und auf das förmliche "Sie" gepfiffen. "Wir sind hier alle per Du. Das schafft mehr Nähe", erklärt Marion Ritter. "Und wir haben das Glück, dass hier alle sehr gesellig sind."

Jeder könne so sein, wie er ist, seine nationale Identität wahren - und auch kulturelle Eigenheiten auf die Gemeinschaft übertragen. So ist es zur Sitte im Haus geworden, dass sich alle Bewohner zur Adventszeit in der schwedischen Wohnung treffen, um Glögg, einen heißen Alkoholpunsch, zu trinken und Pepparkaka zu knabbern. "Das ist sehr lustig und ich bin eigentlich jedes Mal betrunken", rekapituliert etwa die Holländerin Yvonne van Meerveld.

Die ehemalige Tänzerin wohnt seit 34 Jahren am Lehmweg. "Ich bin in Indonesien geboren und in Holland aufgewachsen, also total durchmischt. Deshalb weiß ich die Vielnationennachbarschaft zu schätzen", sagt sie. Hinzu komme, dass im Lehmweg fast nur Musiker, Schauspieler und anderweitig Kreative leben. "Das macht vieles einfacher. Es ist ein Haus der Freigeister." Natürlich herrsche nicht durchweg Harmonie: "Aber hier ruft keiner die Polizei, wenn er ein Problem hat oder vom Kindergetrampel genervt ist." Bei Konflikten wird man direkt beim Nachbarn vorstellig. "Außerdem stimmt die Altersmischung", sagt van Meerveld. "Wir haben hier Alte und Junge." Zurzeit wohnen fünf Kinder im Haus.

Die Jüngste ist Kielle, 1, die Tochter von Jörg und Xenia Walbaum. "Als Bayer bin ich ja auch Ausländer", sagt der 37-jährige Analyst. Ihn habe nach dem Einzug sofort das großzügige hanseatische Gebaren fasziniert. "Draußen herrscht Ellenbogenmentalität, im Haus ist es ganz anders", sagt er. Offen, hilfsbereit, sozial - Charaktere und die Einstellung der Bewohner passen eben. Die Herkunft spiele dabei kaum eine Rolle.

"Früher war das noch ausgeprägter", sagt der Brite Neil Landon. "Da haben wir dauernd Hausfeste gefeiert." Seit 34 Jahren wohnt er mit Frau Bärbel im Erdgeschoss. "Und wir waren immer international", sagt der Musiker, der von Berufs wegen "Kosmopolit" sei. "Man kann auch in Ruhe gelassen werden", beschreibt Peter de Vries das Geheimnis des Zusammenlebens. Auch bei ihm, seiner Frau Irmi und den Kindern Jette und Pieter fällt der Begriff "Freigeister".

"Im Alltag ist es jedenfalls kaum ein Thema, dass wir alle woanders herkommen", sagt Schauspieler Herbert Trattnigg. "Du kommst aus England - so what? Das ist doch heute, im vereinten Europa, normal", sagt der Österreicher. Gegenseitige Achtung sei wichtig - und eine offene Lebenseinstellung.

"Nur beim Fußball fiebert dann doch jeder für sein Land", sagt Trattnigg, das sei eine ernste Angelegenheit im Haus. Doch bei allem Nationalstolz bleibe selbst der Hohn freundschaftlich. Nachbarschaftliche Konflikte sind jedenfalls nicht zu erwarten, wenn im nächsten Jahr Europameisterschaft ist. Die sieben Nationen werden es miteinander austragen, nicht gegeneinander. "Holland und Deutschland sind ja schon qualifiziert", sagt Peter de Vries. Es dürfte wieder ein Fest werden am Lehmweg.