Kirchenallee, St. Georg: Gerd Gillenkirch ist Dauermieter im Maritim Hotel Reichshof. Dort genießt er den Komfort und die Nachbarschaft auf Zeit.

Hamburg. Der weiße Bademantel liegt akkurat gefaltet auf der weißen Bettdecke. Die kleine Tüte mit Nüssen thront unberührt auf dem Kopfkissen darüber. Schwarzer Koffer, Laptop-Tasche, ein Jackett an der Garderobe - am Montag sieht das Hotelzimmer mit der Nummer 602 aus wie viele andere auch: aufgeräumt, mit gediegenem Holzmobiliar, ohne persönlichen Stil. Theoretisch könnten hier selbst gemalte Schwarz-Weiß-Bilder des Hobby-Künstlers Gerd Gillenkirch hängen. Von Montag bis Freitag ist das großzügige Doppelzimmer unter dem Dach seine zweite Heimat - für 50 Wochen im Jahr. Nur zu Weihnachten und Silvester bleibt der selbstständige Bauleiter seiner Wahlheimat Hamburg fern, feiert mit seiner Familie in Kelkheim bei Frankfurt. Ansonsten ist die 602 fest für ihn reserviert. Nicht zu üblichen Konditionen: Als sogenannter Longstayer genießt er eine spezielle Rate. "Vor drei Jahren habe ich einen Preis von 89 Euro statt der üblichen 100 Euro ausgehandelt", sagt er. Mittlerweile sei er bei 93 Euro pro Tag mit Frühstück.

Gerd Gillenkirch ist einer von vielen Dauermietern im Maritim Hotel Reichshof in St. Georg. "Die meisten sind beruflich in Hamburg, wollen sich aber keine eigene Wohnung zulegen", sagt Hoteldirektor Ralf Adamczyk, 44. Das wollte auch Gillenkirch nicht. "Es ist zwar etwas teurer, aber dafür muss ich das Bett nicht machen und nicht aufräumen. Ich muss mich um nichts kümmern." Stattdessen genießt er den Komfort eines Vier-Sterne-Hotels mit hauseigenem Schwimmbad, Frühstücks-Büfett und Zimmerservice. So wie seine prominenten Nachbarn, darunter die Schauspieler Ulrich Tukur und Dominique Horwitz. Letzterer wohnt seit seinem Engagement am Hamburger Schauspielhaus regelmäßig im Hotel an der Kirchenallee.

Den Dauermietrekord hält nach wie vor Sänger Udo Lindenberg. 13 Jahre wohnte er im Atlantic-Hotel an der Alster, fühlte sich nur dort wohl. Und folgte damit einem Trend, den einst amerikanische Künstler und Schriftsteller setzten. Ob im Oriental in Bangkok oder Chelsea Hotel in New York - es war schon immer hip, dort zu leben, wo sich Normalsterbliche höchstens ein paar Nächte leisten können. In den USA haben sich sogenannte Boarding Houses auf die neuen Bedürfnisse verwöhnter Großstädter eingestellt, bieten Rundum-Service wie im Hotel in heimeligen Appartements an. Auch in Hamburg gibt es diese moderne Wohnform, etwa das Clipper Boarding House an der Großen Elbstraße. War schon in den 60er-Jahren die zunehmende Flexibilisierung der Arbeitswelt für diese ungewöhnliche Wohnform verantwortlich, erlebt das Wohnen im Hotel im globalen Zeitalter einen weiteren Schub.

Komfort ja, Anonymität nein. Wer glaubt, dass Longstayer am liebsten für sich seien und wenig Kontakt zu anderen Gästen suchten, liegt falsch. Vielmehr genießen sie ihre zweite Heimat und ihre Nachbarn auf Zeit. Gerd Gillenkirch etwa trifft fast täglich eine kleine Runde von Früh-Frühstückern. "Es sind Berufstätige wie ich, die früh rausmüssen. Wir treffen uns meist gegen halb sieben, dann, wenn die meisten Touristen noch nicht aufgestanden sind." Es sei schon fast wie eine kleine Familie. Wenn der 73-Jährige nach einem freien Wochenende wieder auftaucht, wird er mit großem Hallo begrüßt. Und dann wird geschlemmt: Lachs und Rührei, verschiedene Wurstsorten, Joghurt und Crêpes. "Dinge, die ich zu Hause nicht bekomme!" Seitdem er die Kaltmamsell nach frischen Brötchen gefragt hat, serviert sie sie ihm nun persönlich am Platz. Überhaupt seien alle so nett und zuvorkommend im Maritim, die Hamburger mag er wegen ihrer Offenheit. Um 8 Uhr geht der Selbstständige dann auf die Baustelle. Im Moment wird die Fassade einer großen Bank in der Innenstadt erneuert. "Das Schöne ist, dass ich vom Hotel überallhin zu Fuß gehen kann", sagt Gerd Gillenkirch. Wenn er hungrig ist, isst er entweder im Hotel oder im Steakhaus nebenan. Ab und zu geht er auch ins Schauspielhaus oder ins neu eröffnete Ohnsorg-Theater, wo er sogar vieles vom plattdeutschen Stück verstanden habe.

Manchmal kommt seine Frau zu Besuch - die dann praktischerweise bei ihm "wohnen" kann. Ebenso sein ältester Sohn, der manchmal beruflich in Hamburg ist. Heimweh nach Kelkheim hat Gillenkirch nie. "Hier fühle ich mich wie zu Hause." Auch wenn die Hotelleitung es ihren Gästen aus Sicherheitsgründen empfiehlt: Den Schlüssel an der Rezeption abzugeben kommt ihm nicht in den Sinn: "Das macht man ja auch nicht bei der eigenen Wohnung!" Seine Frau kenne seinen Arbeitsrhythmus schon seit über 15 Jahren, sie habe keine Probleme mit einer Wochenend-Ehe. Und Gillenkirch ist ohnehin der Meinung, dass Beziehungen auf Distanz am besten funktionieren. Von seinem Zimmer aus blickt er auf den Hauptbahnhof, bei geöffnetem Fenster hört man permanent Geräusche. "Das stört mich überhaupt nicht. Das Leben ist hier eben viel trubeliger als in Kelkheim." Er liebe das nostalgische Flair des über 100 Jahre alten Hotels, die üppigen Kronleuchter, dicken Teppiche, das auf Hochglanz polierte Messing. Die M&M-Bar mit Originalmöbeln aus den 20er-Jahren. Dort könne er ungestört seine Havanna-Zigarren paffen, dazu ein kühles Bier oder ein Glas Rotwein trinken. Mit anderen Dauergästen oder Barchefin Angela Thalies plaudern. "Ich kenne sie seit meinem ersten Tag im Hotel", sagt Gerd Gillenkirch. "Damals arbeitete sie noch als Servicekraft."

In ein paar Wochen heißt es voneinander Abschied nehmen - nach drei gemeinsamen Jahren Hotelleben. Denn dann plant die 25-Jährige nach Neuseeland überzusiedeln. Direktor und Dauermieter hoffen, dass sie danach wieder zurückkommt. "Viele Gäste kommen und gehen", sagt Ralf Adamczyk. "Einige von ihnen werden auch mit dem Hotel alt." Gerd Gillenkirch gehört zweifellos zur zweiten Kategorie. Für das kommende Jahr ist das Zimmer 602 schon reserviert.