Binnenhafen, Harburg: Eine große Freiheit prägt das Wohnen auf dem Wasser. Das schwimmende Zuhause kann allerdings leicht gestohlen werden.

Hamburg. Auf der Terrasse von Kurt Artes muss man ein bisschen aufpassen, wenn man nicht plötzlich mit seinem Stuhl versinken will. "Immer schön schräg stellen, möglichst quer zu den Hölzern", warnt "Kutter-Kurt", wie sie den weißbärtigen Mann hier in dem kleinen Werfthafen an der Süderelbe nennen. Kutter-Kurt hat dort seinen Liegeplatz ganz weit außen, fast schon mitten im Strom: Dort, wo jemand mal ein Schild "Land's End" an einen Dalben genagelt hat. Die Terrasse von Kurt Artes ist der Steg, in dessen Ritzen schnell mal ein Stuhlbein rutschen kann, wenn die Anlage ins Schaukeln kommt.

Gleich nebenan liegt sein Hochseekutter "Erik". Seine Wohnung sozusagen. So wie manche hier in der abgelegenen Ecke zwischen Alter Elbbrücke und Binnenhafen wohnt Kutter-Kurt die meiste Zeit des Jahres auf dem Schiff, seit der frühere Sozialarbeiter vor zwei Jahren pensioniert wurde.

"Boatpeople könnte man uns nennen", sagt sein Nachbar Klaus Kölpin, 74, der auch den Winter in seinem kleinen Segelboot ausgeharrt hat. Eine Elektroheizung hält das Schiff warm, gekocht wird mit Gas oder Petroleum. Zur Toilette muss man hoch zum Werftbüro gehen. Doch das alles nehmen sie in Kauf für ein Leben abseits des Üblichen. "Nach dem Überwintern habe ich nun auch das Übersommern geschafft", sagt Kölpin fröhlich. Beide lachen, ganz dicht zieht ein Binnenschiff vorbei. Die Bugwellen schwappen zurück, die "Terrasse" und der Kutter schaukeln sanft. Aufgeregt paddeln einige Enten unter den Steg. "Ist das nicht wunderbar hier?", fragt Artes. Kölpin nickt. "Das ist Aussteigen im Alter", kommentiert der frühere Pressesprecher. Beide grienen wieder.

Aussteiger oder auch Außenseiter sind sie wohl tatsächlich, und genießen das auch. Denn bis auf wenige, eher teure Ausnahmen ist das Wohnen auf dem Wasser in Hamburg noch eine juristische Grauzone. Im gesamten Hafen ist es im Prinzip verboten, nur "hafenkonforme" Nutzungen seien erlaubt, heißt es bei der Hamburg Port Authority (HPA). Dennoch gibt es sie: Menschen, die auf Schiffen oder Hausbooten leben und dafür eine geduldete Nische gefunden haben. Sei es in der Billwerder Bucht, im Spreehafen. Oder eben an der Süderelbe in Harburg.

Kleine Widrigkeiten und große Freiheiten prägen das Leben hier. Und eine enge Nachbarschaft, die trotz aller Individualität sehr wichtig genommen wird. Allein schon damit jemand aufpasst, dass ein Zuhause nicht gestohlen wird, wenn man mal nicht da ist. Was jemand von Beruf ist, bleibt da zweirangig. Man akzeptiert, wie der Nachbar lebt, und packt an, wenn man erkennt, dass Hilfe notwendig wird. "Das ist schon sehr wichtig, doch man muss schon Gespür dafür haben, wann Anpacken notwendig ist und wann jemand es allein schaffen will", sagt Kurt Artes. Wohnen auf dem Wasser bedeute aber, dass das Haus immer den Elementen augesetzt ist. Festmacher-Taue können reißen, Fender aufschwimmen. Immer ist etwas zu reparieren. "Ohne gegenseitige Hilfe geht das letztlich nicht mit dem Wohnen auf dem Wasser", sagt er.

Eine These, die Werner Pfeifer teilt. Der 50-jährige Radio-Reporter und Musiker ist ein Nachbar von Kutter-Kurt und den anderen aus dem Werfthafen. Wenige Meter weiter hinter der Schleuse zur Süderelbe hat er sein Wohnschiff, eine alte Hadag-Fähre im etwas ruhigeren Harburger Binnenhafen liegen. In der großen Wohnküche fällt der Blick durch die Bullaugen auf ein verzweigtes Wasserareal mit einer Vielzahl von Yachten, Hausbooten und schwimmenden Formen, die etwas von beidem haben. Wo dort jemand das ganze Jahr über wohnt, weiß Pfeifer genau. Man kennt sich, trifft sich oft zum Nachbarplausch, sagt Pfeifer. "Das geht eben nicht über den Gartenzaun, wir besuchen uns einfach per Boot."

Lange schon werden solche Wohnformen im Harburger Binnenhafen geduldet, obwohl er bis vor Kurzem ebenfalls Hafengebiet war. Seit den 70er-, 80er-Jahren gilt er auch als Bastlerhafen, als Ort, wo jahrelang an dem Traum vom eigenen Schiff oder Hausboot gearbeitet wird. Nachbarschaften auf dem Wasser sind da gleichzeitig wichtige Info-Börsen, sagt Pfeifer. Wo gibt es günstig Teakholz, wer kennt jemanden, der gut schweißen kann? Seit Kurzem ist das verzweigte Wasserareal aus dem Hafengebiet entlassen und es gibt eine gute Chance, dass hier Hausboote, sogenannte Hafenlieger, einmal eine feste legale Basis bekommen, hofft Pfeifer.

Und es gibt eine Chance, dass sich das anders entwickelt, als die mehr oder weniger gescheiterten Hausbootpläne des früheren schwarz-grünen Senats. 75 ganz legale Hausbootliegeplätze wollte die Stadt in den Kanälen schaffen. Von einem Flair wie in Amsterdam schwadronierte der frühere Stadtentwicklungssenator Michael Freytag (CDU). Doch die Stadt verlangte Architektenwettbewerbe und schuf eine Fülle von Auflagen. Ganz so, als wolle man brasilianischen Karneval mit preußischer Militärordnung in Schwung bringen. Kein Wunder, dass dann solche Hausboote um die 500 000 Euro kosten sollten, seit Jahren schon sind die angedachten Plätze frei. Nur im Eilbek-Kanal in Barmbek-Süd konnten zehn Hausboot-Eigner ihren Traum verwirklichen.

Ein Traum aber, der immer wieder Arbeit macht: Für das Wohnschiff etwa braucht Pfeifer alle paar Jahre ein Schwimmfähigkeitszeugnis. Und wieder sind es Nachbarn, die mit anpacken, wenn ein solches Haus mal eben zur Inspektion in die Werft muss. Und dann ist da eben noch die Sache mit der Entsorgung. Heute hat Pfeifer daher den Fäkal-Lkw bestellt, der über einen langen Schlauch den Tank leer saugt. Am Ende liegt das Wohnschiff etwas schräg, weil nun der Trinkwassertank auf der anderen Seite mehr Gewicht hat. Pfeifer zuckt die Schultern. "In zwei Wochen ist das wieder gerade", sagt er. Kleine Widrigkeiten eben, die man für die große Freiheit hinnimmt. Eine zeitweilig schiefe Wohnung genauso wie eine schaukelnde Terrasse.