Auf St. Pauli haben sich einige Bewohner ein Biotop mitten in der Stadt geschaffen - mit Obstbäumen, Rosen und Grillfesten.

Bernstorffstraße, St. Pauli. Neulich, als Susanne Pfeifer zum wöchentlichen Treffen des Kirchenchores einen Korb frisch geernteter Birnen mitbrachte, war ihre Sängergemeinde erst erfreut und dann doch sehr erstaunt. Reife Birnen, so früh im Jahr! Wie nett von dir, uns Obst zu bringen, euer Garten liegt ja sicher weit vor den Toren der Stadt. Woraufhin Susanne Pfeifer nichts weiter tun musste, als die Schar vor die Kirchentür zu geleiten, den Finger in Richtung anderer Straßenseite zu heben und zu sagen: "Seht ihr, dort oben hinter der kleinen Mauer, da steht unser Birnbaum."

Dazu muss man wissen, dass es sich bei besagter Chorgemeinde um die Friedenskirche handelt, auf halbem Weg zwischen Reeperbahn und Schulterblatt, im Herzen von St. Pauli also, und das Letzte, was man dort erwartet, sind frische Birnen vom eigenen Baum. Familie Pfeifer hat einen solchen, seit knapp 30 Jahren schon. Gemeinsam mit ihren Nachbarn hat sie sich in der Bernstorffstraße eine Art Wohnbiotop aufgebaut, das gängige Kiezbilder aufs Ungewöhnlichste konterkariert.

Im schönsten Licht erscheint dieses Biotopbild natürlich im Garten selbst. Der Blick von der Terrasse fällt auf Rosen und Sonnenblumen, auf Lupinen und Ballonblumen, und dort, wo sonst die Nachbarn der Parallelstraße ihre Fenster zur Hausrückseite haben, schützt ein Hochbunker aus Weltkriegszeiten vor neugierigen Blicken. Nebenan das Grundstück hat nur eine einstöckige Garagenmauer und bietet freie Sicht auf den neugotischen Backsteinturm der Friedenskirche. Wüsste man nicht, wie man hierhergekommen ist, dann wähnte man sich wohl in einem niederdeutschen Dorfidyll, in dem allein die Bunkerfassade ganz gut zum rauen Image des Kiezviertels passt.

Die Pfeifers - Susanne, 52, Peter, 55, und die drei Kinder Florentine, Frederik und Felix - leben hier seit 1983. Florentine ist 21 und schon aus dem Haus, Felix und Frederik, 19 und 17, werden es ihr wohl bald nachtun. "Als wir hier hinzogen, schlugen unsere Eltern die Hände überm Kopf zusammen. Von wegen: Kinder auf St. Pauli großziehen, wie könnt ihr nur?", sagt Susanne. Dass die Pfeifers den Entschluss nie bereut haben, verdanken sie ihrem Biotop. Und den Menschen drumherum.

Es ist ein typischer, halb verregneter Frühabend im Spätsommer 2011, als Max von Karais sich entschließt, den Apfelbaum doch noch mal zu schütteln. Seit Tagen holt er Korb für Korb aus dem Astwerk. Tagsüber ist von Karais, 35, Stationsarzt für Kardiologie am Albertinen-Krankenhaus in Schnelsen, abends und am Wochenende Hobbygärtner. Seit drei Jahren bewohnt er eines der gut hundertjährigen Bürgerhäuser im Bernstorffstraßen-Ensemble, erst hier hat er den Zugang zur Gärtnerei gefunden. Nun graben er und seine Mitbewohner Sergej und Amelie die Böden um, schneiden die Rosen und sammeln das Fallobst. Alle drei sind Singles, gemeinsam bewohnen sie drei Stockwerke in dem denkmalgeschützten Haus. Und alle drei genießen das Gefühl, mitten im Ausgehviertel von Deutschlands zweitgrößter Stadt und doch wie auf dem Dorf zu leben. Die Wohnungstüren sind stets offen wie auch die Gärten zu den Nachbarn, den Pfeifers rechter und den Reifenraths linker Hand.

St. Pauli ist ein Viertel mit viel Rotlicht und wenig Kindern, hohem Ausländer- und niedrigem Senioren- sowie Familienanteil. Der Anteil "sozialversicherungspflichtig Beschäftigter" liegt deutlich unter, der von Hartz-IV-Empfängern und Straftaten deutlich über Hamburgs Durchschnitt. Die Gegend um Brunnenhof und Bernstorffstraße ist da große Ausnahme und Vorbote zugleich. Große Ausnahme, weil hier seit Jahrzehnten ein enges soziales Netzwerk besteht. Und Vorbote, weil auch hier die steigende Popularität des Stadtteils dessen Sozialstruktur wandelt.

Abgesehen vom Grün ist "bunt", da sind sich alle einig, das große Plus des Bernstorffstraßen-Biotops. "Wir wollten Kinder, aber deshalb nicht nach Eppendorf ziehen. Hier ist es weniger homogen, weniger glatt, hier trifft man Menschen aller Art, wir dachten, hier muss man Kinder großziehen können. Und man kann", sagt Susanne Pfeifer. Die Lebensentwürfe der Nachbarn sind entsprechend unterschiedlich. Max von Karais und seine zwei Hauskompagnons sind viel unterwegs und gehen mitunter gerne aus. Die Reifenraths lieben es gediegen und haben ihr Haus zum Designtempel umgebaut, für sich und zwei Kinder. Und die Pfeifers sind via Kirchengemeinde im ganzen Viertel vernetzt.

Was fehlt, sind die Problemfälle, die Migranten mit Integrationsproblemen, die gebrochenen Biografien, was wiederum symptomatisch ist für den Wandel der Gegend. Natürlich gibt es sie, die schrillen, mehr oder weniger tragischen Figuren, denen man früher auf St. Pauli an jeder zweiten Ecke begegnete. Aber auch Susanne Pfeifer bestätigt, dass die Zahl "gut situierter" Zuzügler zunimmt. Auch Eltern mit Kindern. Im kircheneigenen Kindergarten steigen die Anmeldezahlen von berufstätigen Besserverdienern. Kein Zweifel, St. Pauli wird immer schicker, auch und gerade für Großstadtfamilien.

Inzwischen zeigt sich die Aufwertung des Viertels auch in der Bernstorffstraße ganz direkt. Im Nachbarhaus der Pfeifers befand sich früher eine schummrige Pinte, nun haben sechs junge Leute den Laden übernommen, umgestaltet und neue Gäste angezogen. Und ein paar Meter weiter hat ein bekannter Architekt ein Eckhaus gebaut: viel Glas, viel Beton, wenig Seele.

Nach den Plänen desselben Architekten soll nun ein sechsgeschossiges Haus ähnlicher Bauart gebaut werden, und zwar genau auf der Brache, die vorher den Blick von den Gärten der Pfeifers & Co. auf den Friedenskirchturm freigab. Das Panorama wird bald ein Stück weniger ungewöhnlich sein. "Und wenn schon", sagt Max von Karais. Der blickdichte junge Ahornbaum an der Grenze zum Neubau werde in zwei Jahren auch locker sechsstöckig sein.