Warum das totgesagte Radio alle Untergangsprediger stets überlebt hat - eine Hommage an ein lebendiges Medium.

Hamburg. Für Kulturpessimisten ist die Sache klar - das Radio von heute ist eine einzige Katastrophe. Ganz schlimm! Eine kleine Aufzählung des Schreckens gefällig? Dudelfunk, Formatradio, Morningshows, Jingleterror, Dampfgeplauder, Rotation. Wer derlei Begriffe in eine Schwerintellektuellendebatte einstreut und den Niveauverlust des Mediums beklagt, hat den Beifall auf seiner Seite. Doch die Wahrheit hat er damit noch nicht gepachtet. Er beklagt vielmehr einen Ausschnitt, der nicht die Wirklichkeit spiegelt. Er liegt nur zum Teil richtig, so wie eine stehen gebliebene Uhr zweimal am Tag die richtige Zeit anzeigt oder ein Regenbogen rot ist.

Wer richtig hinhört, bewusst einschaltet oder sich durch die Sender zappt, bekommt deutlich mehr als "die Megahits der Achtziger, Neunziger und das Beste von heute". Er bekommt Tiefenschärfe, die die Welt ausführlicher erklärt als in 1:30 Minuten, er bekommt unerhörte und ungehörte Musik, er bekommt Überraschendes auf die Ohren. Ein Radio kann wie eine Zeitung sein - den Horizont erweitern, weil es uns Dinge vorstellt, von denen wir bis zum Moment des Hörens noch nicht einmal ahnten, dass es sie gibt, geschweige denn dass sie uns interessieren könnten. Vermutlich schalten deshalb täglich mehr als 60 Millionen Menschen, fast 80 Prozent der Deutschen ein.

+++ Die Nominierten +++

+++ Der Deutsche Radiopreis +++

+++ Die Geschichte des Radios +++

Als wir kleine Jungen waren, kam die große weite Welt aus dem Äther. Wir radelten nach der Schule wie die Teufel nach Hause, um möglichst wenige Titel der "Plattenkiste" zu verpassen, wir tippten mit bei "Mal Sondocks Hitparade" "Hit oder Niete" oder saßen mit unserem Kassettenrekorder vor dem "Club-Wunschkonzert", in der Hoffnung, geliebte Titel aufs Magnetband zu bannen. Ich gestehe, mich weckte einst um 6.15 Uhr mein Nordmende-Radio, und ich gab mich 45 Minuten dem wunderbaren Hintergrundrauschen hin, während ich mir die Bettdecke noch einmal bis zu den Ohren zog.

Vermutlich war das auch schon Dudelfunk, aber Gott sei Dank waren wir zu schlicht und einfach gestrickt, um Niveaudebatten zu führen. Wenn man dem Radio heute einen Vorwurf machen muss, ist auch dieser aus der Erinnerung gespeist. Gefühlt habe ich meine halbe Kindheit abtrocknenderweise beim NDR-Mittagskurier zugebracht - meine Mutter hasste die Musik und liebte die Nachrichtenbeiträge, bei mir war es genau umgekehrt. Ein Sender versorgte damals noch eine ganze Familie, bevor sich die großen Stationen atomisierten und für diverse Zielgruppen diverse Musikfarben und Textbausteine entwickelten. Nur - ist das nicht ein zeitgemäßes Konzept in der Ära der Patchworkfamilie? Und verlangt der Hörer nicht gerade danach? Rund 200 Anbieter senden auf UKW, im Internet gibt es 2500 Stationen - wollte jeder nur fünf Minuten zuhören, hätte man die nächsten neun Tage zu tun.

Und trotzdem verlangt es uns nach dem gemeinsamen Radio-Großereignis, dem Lagerfeuererlebnis. Die Zeit der Durbridge-Radiokrimis, die mein Großvater noch im Ohrensessel mit dem Gehörgang am magischen Auge verfolgte, ist längst vorbei. Aber es gibt noch ein Radio-Großereignis, das die goldenen Zeiten des Mediums strahlend wiederauferstehen lässt. An 34 Sonnabendnachmittagen im Jahr wird das Radio für gut 90 Minuten groß - und wir klein. Wenn die ARD zur Bundesligakonferenz lädt, darf es laut werden; wir verstummen vor Aufregung.

Schon als kleine Jungs entführten uns die Transistorradios in die Stadien, die damals noch nicht Arenen hießen. Als Halbwüchsige wuschen wir Vaters Auto für zwei Mark und drehten das Radio auf. Heute bleibt der Wagen ungeputzt, denn wir stecken uns den Knopf ins Ohr und gehen mit der Liga laufen. Fans lieben die Live-Reportagen aus dem Tollhaus, wo sich die Stimmen der Kommentatoren überschlagen. Man darf sich unhöflich ins Wort fallen, und ein Ja ist ein Ja, ein Nein ein Nein. "Ja, das ist es, das ist das Tor hier in Bremen" - oder "Nein, nein, nein, die können noch Tage weiterspielen und machen das Ding nicht."

Die Konferenz ist so herrlich aus der Zeit gefallen - in der Zeit von Sky, Bundesliga-Apps und Handy-TV scheinen Moderatoren im Stadion so veraltet wie Rechenschieber, Fernschreiber und Käseigel zusammen. Gerade das macht den Reiz aus. Hören, nicht sehen. Die großen Stimmen der Bundesligakonferenz machen das Spiel anschaulicher als die breiteste Großleinwand; die Moderatoren lesen das Spiel nicht nur, sie erzählen es auch. Mit ihrer Stimmhöhe modulieren sie die Ballhöhe, mit der Lautstärke regeln sie die Dramatik. Mit ihrer Sprechgeschwindigkeit nehmen sie das Tempo aus dem Spiel oder stürmen in den Strafraum. Sie machen alles falsch, was angehende Radiomoderatoren lernen. Das macht sie unverwechselbar. Sie sprechen schneller als sie denken, sie plaudern ins Ungewisse hinein, sie versenden sich. Sie reden ohne Punkt und Komma, ohne Anfang und Ende und oft ohne Sinn und Verstand ("bisher ziehen sich die Bayern toll aus der Atmosphäre"), kurzum: Sie reden, wie man im Stadion sieht, fühlt, tickt. Sie sind die beste Werbung fürs Radio und beileibe nicht die Einzigen.

Wir sind durch Deutschland gefahren, so wie es das Volkslied besingt, und in den Ohren das Brausen vom Strome - der Sender. Die Verkehrsnachrichten erzählen von ungewohnten Dörfern, Städten, Abfahrten, die Stimmen landsmannschaftlich eingefärbt, nur die Musik mitunter zu arg globalisiert. Man mag das eintönig finden, aber es ist viel weniger eintönig als so manches Hörbuch.

Denn Radio ist oft eine Wundertüte - auch in Zeiten des Formatradios, wo angeblich 100 bis 150 Stücke auf Dauerrotation laufen, lässt sich noch immer ein musikalisches Kleinod entdecken. Es mag Altersmilde sein, aber zuletzt scheint das Radio sogar wieder mehr zu wagen als das Immergleiche. Plötzlich hört man neue Bands, neue Stile, neue Stimmen. Natürlich regieren Charts und Klassiker - aber jedes Gerät lässt sich längst mit einem Fingerdruck bedienen und jeder Sender auf Knopfdruck abwählen. Das mögen Kulturpessimisten furchtbar finden, es ist zutiefst demokratisch. Und auch wer lieber das Deutsche Requiem von Brahms hört, muss kein Abgesang auf Deutschland anstimmen, nur weil gerade Sarah Connor läuft. Es gibt ein Recht auf schlechten Geschmack.

Ernsthaft kann keiner erwarten, dass ein Radiosender permanent die Lieblingslieder spielt, die Moderatoren ausnahmslos witzige Witze erzählen und die Nachrichten allumfassend sind. Ein perfekter Sender ist unmöglich - wahrscheinlich wäre er sogar richtig langweilig. Schließlich möchte man sich auch über das Radio ärgern, über das sinnentleerte Dampfgeplaudere empören oder die Musikauswahl mokieren - die Überraschung ist in jeder Wundertüte inbegriffen. Das Radio klingt wie eine etwas lautere und leichtere Schwester der Zeitung. Oder, um ein anderes Bild zu bemühen: Sie gleicht einem guten Büfett: Es muss nicht allen alles schmecken, aber es muss für jeden etwas dabei sein.

Offenbar klappt das. Immerhin 199 Minuten schaltet der Durchschnittsdeutsche täglich ein, laut einer aktuellen Umfrage informieren sich sogar 84 Prozent der Deutschen über das Radio. Gerade die Wortprogramme wie der Deutschlandfunk haben zuletzt deutlich zugelegt. Und das Internet macht das Medium per Smartphone oder Tablet-Rechner überall verfügbar. Wer eine Sendung verpasst, lädt sich einfach die Audiodatei herunter. Es ist kein Wunder, dass Apple seit Kurzem in sein iPod einen UKW-Empfänger einbaute. Das Radio ist tot? Es lebe das Radio!