Teil VI unseres Schwerpunkts: In den Kitas wird nicht gepaukt - den Kindern wird ganz nebenbei und spielerisch sehr viel beigebracht.

Rahlstedt. Betrachtet man auf Gemälden Kaiserin Maria Theresia im Kreis ihrer umfangreichen Familie, so sieht man auf Familienporträts kleine Prinzen in Gardeuniform und kleine Prinzessinnen im Reifrock. Dass es sich dabei um Kinder handelt, erkennt man in vielen Werken nur daran, dass sie halb so groß dargestellt sind wie ihre Eltern. Von der Perücke bis zum Spitzenschuh sehen sie aus wie kleine Erwachsene, haben die Hand am Degen oder wedeln sich kokett Luft ans Dekolleté. Kindheit, so die Schlussfolgerung, gab es nicht zu allen Zeiten, tatsächlich ist sie eine Erfindung des 18. Jahrhunderts.

Heute wissen wir natürlich, dass die Kindheit eine Phase ist, in der junge Menschen Erfahrungen sammeln und sich die Welt erschließen. Vor allem die Hirnforschung hat in den letzten Jahren neue Erkenntnisse gebracht, in welch großem Ausmaß das junge Gehirn aufnahmefähig ist. Kein Wunder also, dass Pädagogen versuchen, diese Aufnahmebereitschaft zu nutzen und bereits kleinste Kinder gezielt zu fördern. Bildung, so wissen sie, beginnt schon lange vor der Schule.

In der Kindertagesstätte Die Urmelis der Rudolf-Ballin-Stiftung in Hamburg-Rahlstedt trommeln Dreijährige auf einen Gummiball mit Noppen, tapsen über eine kleine Treppe und rutschen auf der anderen Seite wieder herunter. Man sieht, dass es den Kleinen Spaß macht. Doch was daran ist "Bildung"? "Viele Kinder haben ihre Körperwahrnehmung noch nicht ausbilden können", klärt der Diplom-Sozialpädagoge und Leiter der Kita, Rolf Tournier, 49, auf. Um die Motorik zu schulen, können sie so Erfahrungen mit verschiedenen Höhen und Materialien sammeln; Kinder mit besonderem Förderbedarf erfahren im Therapieraum verstärkte Zuwendung.

"Wenn diese Schritte vorher nicht gemacht werden, fehlt die Grundlage für alles weitere", ergänzt Ulrike Muß, 46. Sie ist die Bereichsleiterin für die Kindertagesstätten bei der Rudolf-Ballin-Stiftung.

Das Gehirn will sowieso immer lernen, es braucht nur genug Gelegenheiten

Entsprechend gibt es für die Fünf-und Sechsjährigen eine "Lernwerkstatt", wo sie im Zahlen- oder Buchstabenland Grunderfahrungen im Rechnen, Lesen und Schreiben machen, doch auch die Kleineren können schon Experimente machen, etwa einen Tornado in der Wasserflasche entstehen lassen. Natürlich wird auch gematscht, gebaut, gebastelt, gekocht und gespielt, immer jedoch sollen die Impulse der Kinder aufgegriffen werden.

Das meint auch der bekannte Lerntheoretiker Manfred Spitzer, der aus der Hirnforschung didaktische Konsequenzen zieht. Er sagt: "Das Gehirn lernt immer, kann gar nicht anders. Man muss nur dafür sorgen, dass das Kind genügend Gelegenheiten bekommt."

Wie wichtig Neugier und Spaß für den Lernprozess sind, stellt er in seinem Buch "Medizin für die Bildung. Ein Weg aus der Krise" dar und führt fort: "Wer denkt, er 'muss' vom Kinderturnen zum Kinderchinesisch zur Malgruppe zum Ballett, der bringt seinem Kind Hektik bei und gewöhnt ihm Spontaneität ab."

Das ist eine entlastende Nachricht für viele engagierte Mütter und Väter, die sich häufig eher als Taxi fühlen denn als Erziehungsberechtigte. Denn nicht selten haben schon Grundschüler einen Freizeit-Stundenplan, der bis weit in den Nachmittag reicht. "Man soll Kinder fordern und fördern, aber nicht überfordern", meint dazu Schulpsychologe Klaus Seifried vom Berufsverband Deutscher Psychologen. Überforderung führe häufig zu psychosomatischen Erkrankungen und Leistungsverweigerung. Offensichtlich aber hat ein Teil der Eltern begonnen umzudenken. Stephan Prange, 35, Vater von Joona, 4, bringt es auf den Punkt: "Man muss versuchen, die Signale der Kinder zu deuten. Kinder sagen eigentlich immer, was sie wollen." Auch Nicole Wiedermann, 35, weiß: "Wichtig ist, was die Kinder selbst wollen. Es bringt doch nichts, wenn die Kinder etwas machen, nur weil die Eltern es wollen", sagt sie und zeigt damit auf, dass die Sorge der Erwachsenen um gute Startbedingungen für ihren Nachwuchs nicht selten in falschen Ehrgeiz übergeht.

Die Bindung an Bezugspersonen ist so wichtig wie Musik, Sprache und Sport

Klaus Seifried ist sicher, dass verlässliche und stabile emotionale Beziehungen für kleine Kinder mindestens ebenso wichtig seien wie deren gezielte musische, sprachliche oder sportliche Förderung. Die Rudolf-Ballin-Stiftung sieht in der Bindung an Bezugspersonen sogar die Grundlage für gelingende Bildungsprozesse. "Eltern brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn sie ihr Kind in die Kita bringen", betont Ulrike Muß. Denn Kitas teilen sich die Erziehung mit den Eltern, und die vielen sozialen Kontakte und das Lernen von älteren Kindern sind sehr wichtig für die frühkindliche Entwicklung. Ihr Fazit: "Erziehung ist zu ängstlich geworden. Die Kinder brauchen Gestaltungsräume, keine Überholspur."

In der Sonnabend-Ausgabe geht es um die Schulausstattung. Von der Schiefertafel bis zum Rechenschieber - was es alles nicht mehr gibt.