In mehr als 71 Prozent der Haushalte in Barmbek-Nord leben die Menschen allein. Ausschlaggebend für Wahl des Quartiers ist häufig der Mietenspiegel.

Hamburg. Draußen auf der Straße kann jeder machen, was er will. Hier drinnen hab ich das Sagen!" Es gibt wohl niemanden, der Rose-Marie Patzer-Weber widersprechen möchte, Hamburgs Baiser-Kaiserin und im Nebenberuf "Königin der Hundeherzen" - dank ihrer mittlerweile schon legendären Leberwursttorte für alle Bellos und Fiffis - auch wenn die Konditormeisterin bloß ein zierliches Persönchen ist und immerhin 73 Jahre alt. In ihrer Konditorei in der Hellbrookstraße gibt's jede Menge Süßes, vor allem Baisers in gefühlt einer Million verschiedenen Geschmacksrichtungen, aber wer sich nicht benehmen kann oder will, kriegt Saures. "Wir sagen hier 'Guten Tag', und wir sagen 'Auf Wiedersehen'. Wir sagen 'Ja' und meinen 'Ja', und wir sagen 'Nein' und meinen 'Nein'. Aber die Gesellschaft ist ja so schlurig geworden."

Kundenkindern schenkt die Konditormeisterin grundsätzlich ein Baiser, Kundenhunden einen Leberwurstkeks, und wenn, wie vor ein paar Jahren, ein junges Brautpaar klamm ist und trotzdem eine ordentliche Hochzeitstorte haben möchte, geht Rose-Marie Patzer-Weber hoffnungsvoll schon mal in Vorlage. "Zwei Jahre später haben die beiden tatsächlich ihre Torte bezahlt, und einen schönen Blumenstrauß für mich gab's obendrauf", erzählt sie und lächelt. Ein Lächeln, das gefriert, wenn sie darüber sinniert, dass sie mit ihren 73 Jahren noch immer in ihrer Backstube hantiert - und kein Nachfolger in Sicht ist. "Ich bin wohl die Letzte", sagt Rose-Marie Patzer-Weber, die sich nicht damit abfinden will, dass ihr seit 77 Jahren bestehendes Familienunternehmen über kurz oder lang schließen könnte. Ihre Baiser-Konditorei, die so gar nichts gemein hat mit den zahllosen Backshops und "Coffees to go" entlang der benachbarten Fuhlsbüttler Straße, wo bloß noch industriell gefertigte Teigrohlinge aufgebacken werden, ist ein Nostalgikum in einem der großen Wohnquartiere Hamburgs. Denn das (neue) alte Barmbek, das Ende der 1940er-, Anfang der 1950er-Jahre aus den Trümmern des Krieges aufgebaut wurde, gibt es so nicht mehr.

War es zunächst darum gegangen, möglichst schnell möglichst vielen Menschen wieder ein Dach über dem Kopf zu verschaffen, sind viele der heute verfügbaren Wohnungen von damals für Familien zu klein - und die wenigen größeren häufig zu teuer.

Die Wohnungsnachfrage wird dabei nicht vorrangig durch die Zahl der Einwohner bestimmt, sondern von der Zahl der Haushalte. Und in den vergangenen 20 Jahren hat sich nach Einschätzung des Bundesverbands deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen (GdW) eben diese Zahl der Haushalte im Vergleich zur Bevölkerungszahl nahezu vervierfacht. Mit anderen Worten: Hamburg versingelt.

Die Folgen dieser Entwicklung werden durch die jüngste Bevölkerungsstatistik des Statistischen Amts für Hamburg und Schleswig-Holstein von Ende Juli bestätigt: Danach nimmt die Zahl der Familien in citynahen Hamburger Stadtteilen dramatisch ab. Schon fast 30 Prozent aller Hamburger und Hamburgerinnen leben inzwischen allein, was 53 Prozent der Haushalte entspricht. Und Barmbek-Nord nimmt dabei mit mehr als 71 Prozent Einpersonenhaushalten eine Spitzenstellung unter den Stadtteilen ein.

Ob Single oder alleinerziehend: Ausschlaggebend für die Wahl des Quartiers ist häufig der Mietenspiegel. Merle S., 39, Sozialpädagogin an der Marie-Beschütz-Schule, würde mit ihrer elf Jahre alten Tochter und Terrier Lotta auch lieber in der Nähe ihres Arbeitsplatzes, in Eppendorf, wohnen. Aber das sei ihr schlichtweg zu teuer. Inzwischen habe sie sich gut eingelebt, erzählt sie, und überhaupt sei auch abends in Barmbek viel mehr los, als sie anfangs noch gedacht hatte. "Viele Kneipen, im Sommer der Stadtpark - und die Leute sind erfrischend normal."

Auch Dieter-Johann Oppermann, 50, ehemaliger Verwaltungsfachangestellter und seit Kurzem Frührentner, würde aus Barmbek nicht mehr wegziehen wollen - allein schon deswegen nicht, weil er seinen Labrador-Mischling Sebastian-Lars hier im Bezirk Nord nicht an die Leine nehmen muss. "Das wird in anderen Bezirken strenger gehandhabt", sagt er und blickt versonnen die "Fuhle" hinunter: "Ich meine, was will man heute mehr? Ich wohne hier sehr zentral in einer einigermaßen bezahlbaren, wenn auch ziemlich kleinen Wohnung ..."

Die Fuhlsbüttler Straße, die "Fuhle", das kaufmännische Zentrum von Barmbek-Nord, die Lebensader des Quartiers brummt. Dafür ist der große Spielplatz am Schwalbenplatz nebenan beinahe verwaist. Natürlich, es sind die letzten Ferientage, außerdem braut sich am grauen Sommerhimmel wieder was zusammen. Doch noch vor wenigen Jahren wimmelte es hier von Kindern, auch und gerade in den großen Ferien. Heute sind es gerade mal drei. Der sieben Jahre alte Jason, der von seiner Großmutter Doris Lühr, 59, und seiner Urgroßmutter Hilde Fey, 79, begleitet wird und sich mit zwei gleichaltrigen Mädchen aus Kasachstan gerade ein fröhliches Baggermatsch-Duell geliefert hat, sagt offenherzig: "Ich habe hier nur wenig Freunde." Dabei ist Jason ein fröhliches Kind, das man einfach gern haben muss. Hilde Fey erklärt: "Als ich 1957 in unsere Wohnung in der Emil-Janßen-Straße gezogen bin, lebten neun Kinder bei uns im Haus. Jetzt wohnt schon seit Jahren kein einziges mehr da."

Gerade mal vier Kinderärzte sind in den "Gelben Seiten" für Barmbek-Nord vertreten - vier für gut 27 455 Haushalte. Einer von ihnen ist Dr. Bernhard Nast, 58, den seine Lachfältchen jünger machen, als er ist. Er sagt: "Hier in Barmbek verdient man als Arzt natürlich weniger, denn Privatpatienten sind rar gesät. Allerdings hat man auch seinen Patientenstamm - und ich bin ja schon was wie ein Stück Inventar hier auf der Fuhle." Jederzeit würde er hier wieder eine Praxis eröffnen. "Barmbek ist wieder im Kommen. Es werden doch gerade viele Wohnungen gebaut." Es klingt nach Zweckoptimismus.

Vor allem aber soll, ja, muss auch saniert werden. Werner Frömming, Referent für Stadtteilkultur und Kinder-und Jugendkultur bei der Kulturbehörde Hamburg, ist für den Umbau von Altbauten zu familiengerechten Wohnungen zuständig, auf der anderen Seite des Schienenstranges der S-Bahn, der Barmbek-Nord von Barmbek-Süd trennt. "Wenn wir gezielt Familien anwerben wollen, müssen wir einfach in der Lage sein, größere Wohnungen anzubieten", sagt Frömming, der gern auf das wachsende kulturelle Leben in Barmbek verweist. Aber ein Museum für Arbeit, eine "Zinnschmelze", Bücherhallen - nicht zuletzt aber auch die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr sowie die viel zitierte Stadtparknähe - sind für Familien nicht Anreiz genug für einen Umzug.

So haben beide Barmbeks - Nord und Süd - eins gemeinsam: "Das Singletum ist längst nicht mehr nur eine Jugenderscheinung", stellt Angela Rosenthal-Beyerlein, 55, aus der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Alt-Barmbek schon seit Längerem fest. Die Pfarrerin weiß, dass viele der von ihr betreuten Senioren eine Verjüngung des Stadtteils wünschen. "Sie würden so gern am bunten, fröhlichen Leben teilhaben. Manche besuchen deswegen inzwischen sogar Kindergottesdienste." Böse Zungen behaupten mittlerweile, in Barmbek stolpere man inzwischen häufiger über einen Rollator als über einen Kinderwagen. Aber das Straßenbild entspricht nicht diesem Vorurteil - denn viele der älteren Bewohner gehen ja auch nicht mehr so oft raus.

Wenn sich die Bevölkerungsstruktur in einem Stadtteil ändert, verändert sich auch das wirtschaftliche Profil des Quartiers. Vor allem Dienstleistungsfirmen aller Art siedeln sich an, dazu schnellgastronomische Betriebe, und auch die Grundversorgung der Bevölkerung ist Veränderungen unterworfen, wie etwa im Edeka-Markt von Ulf Schumann an der "Fuhle".

Der Kaufmann hat das Angebot seines knapp 1000 Quadratmeter großen Geschäfts auf seine Stammkunden zugeschnitten. "Die sind durchschnittlich 60 plus", sagt der 52-Jährige.

Dementsprechend mehr Platz werde den kleineren Verpackungseinheiten eingeräumt, wie etwa 0,5 l-Packungen Milch, der "Minibutter", den "Minimarmeladen" und "Minileberwürsten", Viererkartons mit Eiern oder portionierbarem Convenience-Food. Auch eine Salat- und Obstbar sowie eine Wurst-Käse-Theke seien unverzichtbar: "Viele Kunden wollen eben nur die eine Scheibe Schinken, 250 Gramm gewürfelte Wassermelone und eine halbe Möhre mit vier Gurkenscheiben. Der Mehraufwand an Personal ist zwar teuer, aber die Alleinstehenden und vor allem die Senioren wünschen solch individuellen Service, auch wenn es natürlich etwas teurer ist."

Der Soziologe Prof. Stefan Hradil von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz hält die Angst vor der Versingelung für übertrieben. "Alleinstehende kompensieren den Schaden, welcher der Gesellschaft entsteht, durch ihre Leistungsbereitschaft im Beruf und ihr hohes Steueraufkommen. Außerdem beteiligen sie sich überproportional in Initiativen, weil sie Kontakte brauchen wie das tägliche Brot", sagt er.

Die demografische Entwicklung könnte sich allerdings zum Problem entwickeln: "Würden alle Singles später pflegebedürftig, wäre das nicht bezahlbar." Doch sei diese Bevölkerungsgruppe erfinderisch, bildeten Netzwerke, zögen später im Alter zunehmend in Senioren-WGs zusammen. "Aus soziologischer Sicht sollte man sicherlich eine gemischt soziale Schichtung anstreben", sagt Hradil, "und zwar sowohl ethnisch wie auch hinsichtlich des Alters und des Einkommens." Der Trend gehe zur "sozialen Segregation" - zu homogenen Stadtvierteln. Das heißt: Eine zunehmende Zahl von Menschen will ihren Lebensentwurf mit ihresgleichen leben.

"Eine Stadtteilentwicklung ist letztlich kaum von oben zu beeinflussen. Viele Initiativen, gemischte Quartiere zu erzielen, sind in der Vergangenheit bereits fehlgeschlagen. Aber mal angenommen, die Entwicklung könnte doch beeinflusst werden: Was wäre dann gewonnen?" Die Hauptsache sei, dass das Viertel auch für andere attraktiv bleib und sich nicht abschottet, sodass keine Vorurteile entstehen."

Vorurteile, die Maike Frommann Barmbek gegenüber nie hatte, im Gegenteil: Die 29-jährige Mutter einer eineinhalbjährigen Tochter ist gerade aus Bremen hierhergezogen. Ihr Mann hat einen Job als Informatiker, sie selbst sitzt gerade über ihrer Promotion in Strafverfahrensrecht. Maike Frommann ist Juristin, eine Akademikerin mit Familie, die es laut Statistik eigentlich kaum gibt, und schon gar nicht in Barmbek-Nord. Sie ist überrascht, als sie erfährt, sie gehöre in diesem Stadtteil zu einer raren Spezies. Dabei war sie sofort dafür gewesen, nach Barmbek zu ziehen. "Drei Zimmer sind doch erst einmal ideal für uns, am Anfang, mit einem Kind", wundert sie sich, "und vor allem sind die Mieten noch einigermaßen passabel."

Rose-Marie Patzer-Weber hat das Baiser für Maike Frommanns Tochter Sanele schon in der Hand. "Schön, dass Sie nach Barmbek gezogen sind. Denn wissen Sie: Barmbek hat alle Schichten. Barmbek wird wieder gut, das wird wieder richtig schön."